Der Tod gehört zum Leben, so will es die Natur. Der Mensch allerdings verfügt über Kräfte, die Gesetze der Natur auszutricksen und dem scheinbar Unvermeidlichen ein Schnippchen zu schlagen. Eine dieser Kräfte ist der Glaube, eine andere die Fantasie. Die dritte und vielleicht am häufigsten anzutreffende ist die sprachliche Schlamperei.
Dank ihrer Hilfe können Menschen auch nach ihrem Ableben noch eine ganze Menge Unheil anrichten. So erfuhr man im April dieses Jahres auf welt.de: „Ein Polizist hat in Regensburg einen Mann durch einen Schuss aus seiner Dienstwaffe getötet. Der Beamte und seine Kollegen wollten einen Streit zwischen dem Opfer und einem weiteren Mann schlichten. Darauf griff der Erschossene die Polizisten an – warum, ist völlig unklar.“ Völlig unklar? Dass ein Erschossener Rache üben will, ist doch nur allzu verständlich.
Nicht erst seit Bram Stoker seinen „Dracula“ erschuf, wissen wir, dass wir uns die Welt mit Untoten teilen müssen. Die Angaben darüber, wie viele dieser Untoten es gibt, schwanken. Aber es müssen sehr, sehr viele sein; allein in Paraguay gibt es Hunderte, wenn man einem Bericht der „Rheinischen Post“ vom August 2004 glauben darf: „In einem Einkaufszentrum in Paraguay ist es zu einem verheerenden Brand gekommen. Dabei sind nach Angaben eines TV-Senders mindestens 340 Tote ums Leben gekommen.“ Ein anderes Mal war in derselben Zeitung ein Bild von einem entgleisten Zug zu sehen, „in dem mindestens 36 Tote starben“, wie der Bildunterschrift zu entnehmen war.
Manchmal haben die Toten auch Glück und kommen mit dem Leben davon. So konnte man auf einer Videotexttafel des Norddeutschen Rundfunks erfahren: „In Hutzfeld bei Eutin haben zwei überraschte Diebe in der Nacht zum Sonntag einen 45-jährigen Grundstücksbesitzer niedergestochen. Nach Angaben der Polizei vom Montag wurden die 16 und 23 Jahre alten Täter gefasst. Der Erstochene ist außer Lebensgefahr.“
Einige Menschen glauben, dass man mit den Toten in Kontakt treten könne, und halten sogenannte Séancen ab, bei denen sie Nachrichten aus dem Jenseits zu empfangen hoffen. Dabei kann man sich diesen Aufwand sparen. Mitunter genügt es schon, die Zeitung aufzuschlagen, denn dort wimmelt es von Nachrichten aus dem Totenreich. Ein beliebter Weg, die Hinterbliebenen zu grüßen, ist die Todesanzeige: „Nach langer, schwerer Krankheit verstorben, trauern wir um unseren geliebten Opa, Vater und Schwiegervater“. Die grammatische Analyse bringt es an den Tag: Da sich das vorangestellte Partizip (in diesem Fall „verstorben“) immer auf das Subjekt des Satzes bezieht, sind „wir“ es, die gestorben sind. Und jetzt trauern wir um unseren Opa … weil er nicht mit uns gestorben ist, sondern es vorgezogen hat, auf der Erde zu bleiben, um das Seniorenheim so richtig schön aufzumischen.
Ein weiterer Fall von Wer-wie-was-Verwirrung wurde in einer Traueranzeige im „Iserlohner Kreisanzeiger“ offenbar: „In treuer Pflichterfüllung hat Gott der Herr meine liebe Frau, unsere herzensgute, besorgte Mutter zu sich gerufen.“ Das mag uns tröstlich erscheinen: Auch Gott erfüllt nur seine Pflicht. Ratlos machte einen indes eine andere Traueranzeige aus der „Schneverdinger Zeitung“ vom Februar 2008, in der es hieß: „Ein großes Herz und zwei nimmermüde Hände haben aufgehört zu schlagen.“ Wer, bitte, war da gestorben? Ein ehemaliger Box-Champion? Eine überforderte Kindergärtnerin?
Jubiläen und Geburtstage machen einem immer wieder auf unbarmherzige Weise klar, wie schnell die Zeit vergeht. Todestage natürlich auch. Der Presseschau von perlentaucher.de konnte man im April dieses Jahres folgenden Hinweis entnehmen: „Eine ganze Seite ist Georg-Friedrich Händel gewidmet, der in diesen Tagen zum 250. Mal gestorben wäre.“ Tja, einmal ist keinmal, wie es so schön heißt. Staunen konnte man auch, als die „Berliner Morgenpost“ im Januar 2008 verkündete: „Nach dem Tod von Luciano Pavarotti wollen die Drei Tenöre nie wieder als Trio auftreten.“
Ruhe in Frieden? Von wegen! So wenig, wie die Toten uns in Ruhe lassen, so wenig lassen wir die Toten in Ruhe. Oft gehen wir dabei nicht einmal besonders nett mit ihnen um. „Verdächtiger wird nach Autopsie erneut verhört“, meldete t-online im Juni 2006. Da wird der Verdächtige also erst einmal aufgeschlitzt und anschließend nochmals vernommen. Vermutlich, um auch noch das Letzte aus ihm rauszuholen. Eine nicht minder irritierende Schlagzeile konnte man im April dieses Jahres in den „Badischen Neuesten Nachrichten“ lesen: „Nach Enthauptung in die Psychiatrie“. Dass der eine oder andere Patient in einer psychiatrischen Abteilung etwas kopflos herumläuft, mag man ja noch hinnehmen, aber richtig enthauptet? Auch mit Drogenopfern wird nicht gerade zimperlich umgegangen. Einige Staaten haben offenbar sehr rigide Methoden, sich ihrer Drogentoten zu entledigen. Sie verfrachten sie auf Boote und lassen sie aufs Meer hinaustreiben. Wie anders sollte man diese Überschrift vom Mai 2007 sonst deuten: „Drogentote sinken“.
Dass das Wissen um die Endlichkeit das Leben überhaupt erst lebenswert macht, hat man inzwischen auch in Baden-Württemberg erkannt. Vor einiger Zeit konnte man in Stuttgart Plakate hängen sehen, die auf den bis dahin völlig unterschätzten morbiden Charme der Landeshauptstadt hinwiesen: „100 Jahre Garten- und Friedhofsamt — Ihr Partner für ein lebenswertes Stuttgart“.
(c) Bastian Sick 2008
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.