Anlässlich meines bevorstehenden Auftritts im Rahmen der Bayreuther „Leselust“ führte der „Nordbayerische Kurier“ ein Interview mit mir. Es ging darin um dieses und jenen, um den Zustand unserer Sprache im Allgemeinen, um fehlenden Grammatikunterricht im Besonderen, um die Sprache des Herzens und die Sprache des Verstandes, um lästige Moden, Stümmeldeutsch und gierig gesaugte Anglizismen.
Kurier: Schön, dass wir uns gleich zu Beginn dieses Jahres sprechen können. Oder heißt es „diesen Jahres“?
Bastian Sick: Einige Menschen glauben, „dieser“ und „dieses“ müssten schwach gebeugt werden, also im Genitiv ein „n“ bekommen. Doch das entspricht nicht dem Standard. Bei anderen Ausdrücken wie „letzten Endes“ oder „frohen Mutes“ hat man ein „n“, weil es sich dabei um Adjektive handelt. Aber „dieses“ ist kein Adjektiv, sondern ein Pronomen, und das wird stark gebeugt. Genau wie „jenes“: Es heißt „jenes Jahres“, „jenes Kindes“ – nicht „jenen Jahres“, „jenen Kindes“. Ein schwieriger Einstieg in ein schönes Thema: die deutsche Sprache.
Man hat den Eindruck, dass es um die deutsche Sprache nicht gut bestellt sei …
Sick: Natürlich hat sich unsere Sprache verändert, das tut sie permanent. Schon seit den alten Germanen ist sie in Bewegung, und zu allen Zeiten war sie fremden Einflüssen unterworfen. Viele Jahrhunderte lang waren es hauptsächlich Französisch und Italienisch, die auf das Deutsche eingewirkt haben, seit dem Zweiten Weltkrieg ist es vor allem Englisch. Sprache selbst kann nicht gesund oder krank sein. Sie ist immer ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wenn man den Eindruck hat, es sei schlecht um sie bestellt, dann muss man sich das durchschnittliche Bildungsniveau der Gesellschaft anschauen.
Wie sieht es denn damit aus?
Sick: Die Pisa-Studien sagen einiges darüber aus. Eine Studie hat kürzlich festgestellt, dass viele Deutsche nicht einmal richtig lesen können, vom Schreiben ganz zu schweigen. Das betrifft vor allem jüngere. In meinem Bekanntenkreis gibt es viele ältere Menschen, die tadellos schreiben, druckreif geradezu. Das sind längst nicht alles Akademiker. Jüngere Menschen hingegen sind heute kaum noch in der Lage, fehlerfrei zu schreiben. Einige wissen sich nicht einmal in vollständigen Sätzen auszudrücken. Und das hat nichts mit der Rechtschreibreform zu tun.
Woran liegt es dann?
Sick: Seit den 70er-Jahren wird im Fach Deutsch kaum noch Grammatik unterrichtet. Damals vertraten Reformpädagogen die Auffassung, die Vermittlung von Regeln wirke sich hemmend auf die sprachliche Entwicklung junger Menschen aus. Ein fataler Trugschluss! Der Mensch braucht Regeln, und er will wissen, wie er sie beherrschen kann. Stellen Sie sich bitte vor, Sie lernen eine Fremdsprache, und Ihr Lehrer sagt Ihnen: „Regeln? Wozu Regeln? Machen Sie das einfach aus dem Bauch heraus!“ Zwangsläufig werden Sie an der Sprache scheitern. Wenn man aber die Regeln verinnerlicht hat, kann man auch schnell Erfolgserlebnisse haben, und das wiederum motiviert zum Weiterlernen. Wenn Grammatik richtig unterrichtet wird, macht sie sogar Spaß – auch Kindern mit Migrationshintergrund, die da schnell Erfolgserlebnisse haben können.
Bekannt geworden sind Sie als Verteidiger des Genitivs. Das Bayerische oder das Fränkische kennen den Wesfall aber gar nicht …
Sick: Die wenigsten Dialekte haben den Genitiv. Der Genitiv ist eher ein Fall der Hochsprache, der über viele Jahrhunderte künstlich gefördert worden ist, von Schriftstellern und Kirchenlieddichtern. In der Renaissance ist der Genitiv noch an Stellen verwendet worden, an denen wir ihn heute für falsch halten würden. Vor allem Luther hat viel zur Verbreitung des Genitivs beigetragen. Wäre seine Bibelübersetzung nicht gewesen, mit der er den Genitiv praktisch verewigt hat, dann wäre dieser Fall aus unserer Sprache womöglich schon längst verschwunden, so wie im Englischen und im Niederländischen. Dort kennt man ihn nur noch unter dem Etikett „historisch“.
Andererseits kann man ja auch ohne Genitiv elegant eine Besitzangabe formulieren. Was halten Sie von Johannes Raus Bezeichnung fürs Stadion von Schalke – „dem Ernst Kuzorra seine Frau ihr Stadion“?
Sick: Das war sehr lustig! Der besitzanzeigende Dativ erfreut sich gerade in Nordrhein-Westfalen ungebrochener Beliebtheit. Mir geht es nicht darum, Dialekte zu diskreditieren. Darin bin ich bisweilen missverstanden worden. Dialekte haben ihre eigene Schönheit und Berechtigung. Ich sage stets: „Die Hochsprache ist die Sprache des Verstandes, der Dialekt die Sprache des Herzens.“ Meine Aufgabe ist es, die Hochsprache zu erklären, und das ist deswegen wichtig, weil viele Menschen immer wieder Fragen an ihre Sprache haben. Auch deswegen, weil gerade auf professioneller Ebene viele Fehler gemacht werden.
Zum Beispiel von uns Journalisten.
Sick: Ich bin selbst Journalist und habe einige Jahre als Schlussredakteur gearbeitet. Während dieser Zeit habe ich viele nützliche Erfahrungen gesammelt; über häufig gemachte Fehler, über typische Phrasendrescherei, über die Sucht nach Synonymen: „Der 35-Jährige kam 1979 in Rottenbach zur Welt.“ Damals war der bestimmt noch keine 35!
Schlussredakteure gelten als penible Menschen …
Sick: Das sollten sie auch sein. Dafür werden sie schließlich bezahlt.
Dieser Form der Rechthaberei haben Sie höchste Weihen verliehen, und das dank Ihres offenbar immensen Wissens.
Sick: Es gehört doch zu den Aufgaben eines Journalisten, sich schlau zu machen, nachzuschlagen und gründlich zu recherchieren. In meinem Fall: herauszufinden, wo bestimmte Redewendungen herkommen, was bestimmte Wörter bedeuten und wie man sie richtig gebraucht.
Was ist Ihre beste Quelle?
Sick: Die beste Quelle sind meine Leser. Tag für Tag schicken meine Leser mir Fundstücke, sprich: abfotografierte Schilder, Speisekarten und Angebotstafeln aus Supermärkten mit zum Teil haarsträubenden Fehlern. Das Material ist unerschöpflich, so viel hätte ich niemals allein zusammentragen können. Viele Leser stellen mir auch Fragen: Wie sagt man es richtig? Was bedeutet dieses oder jenes Wort? Wo kommt das her? Nicht selten wird aus der Beantwortung einer solchen Frage eine neue Kolumne.
Was ist für Sie die ärgerlichste Sprachmode?
Sick: Jede Mode ist ärgerlich, wenn sie aus gedankenloser Nachäfferei besteht. Viele regen sich derzeit über das sogenannte Stümmeldeutsch auf, über Sätze wie „Wir sind Papst“, „Wer kann Kanzler?“, „Werden Sie Hafencity“, „So geht Sofa“ und „Soo muss Technik“.
Schuld ist also wieder mal die Werbung.
Sick: Die Werbung und die Medien. „Wir sind Papst!“ war eine Überschrift der „Bild“-Zeitung. Journalisten und Werbetexter schreiben erfahrungsgemäß gern voneinander ab. Darum findet man dieses grelle „Ich kann Superstar“-Deutsch regelmäßig in der Presse, in der Werbung und im Fernsehen, aber das heißt noch lange nicht, dass normale Menschen so sprechen würden. Es handelt sich um eine plumpe Anbiederung der Medien an die vermeintliche Sprache des Volkes. Das gilt auch für die vielen Anglizismen, die von Werbung und Journalismus begierig aufgesaugt werden. Oder gesogen.
Ja, wie denn nun?
Sick: Sowohl als auch. Wenn’s biologisch ist: gesogen. Wenn’s um einen technischen Vorgang geht: gesaugt. Gesaugter Staub landet im Staubsaugerbeutel, gesogener Staub landet in der Nase. Gierig gesaugte Anglizismen landen früher oder später auf dem Sprachmüllhaufen.
Herr Sick, wir danken für das Gespräch.
Die Fragen stellte Michael Weiser
Bayreuther Leselust 2014: Lesung mit Bastian Sick am 8.2.2014 im „Zentrum“
„Gierig gesaugte Anglizismen landen auf dem Sprachmüllhaufen“ – herrlich! 🙂
Allerdings ergibt sich auch direkt eine Frage: Gibt es auch „aufgesogen“? Meine Mutter sprach früher immer von „mit der Muttermilch aufgesogen“. Sie erwähnen aber nur „aufgesaugt“ und nicht „aufgesogen“ …
Sie sprechen mir aus dem Herzen bei den Beispielen aus der Werbung. Wenn ich so etwas im Radio höre, sträuben sich mir immer noch die Haare, aber vielleicht beabsichtigen die Texter ja solche Reaktionen. Schade, dass Sie im Interview nicht auf die Rücksichtslosigkeit der Bayern (besonders der Sportler) eingegangen sind, ihren eigenen Dialekt zu pflegen. Der Höhepunkt für mich ist dann, wenn ein idiotisches „von demher“ geäußert wird.
Man denke nur daran, wenn Norddeutsche, so sie es denn noch können, in Plattdeutsch reden würden.
Ein weiteres Beispiel dieses Stümmeldeutschs habe ich auch gefunden. In unserer (Schweizer) Stadt wird bald eine Fielmann Filiale eröffnet. Schon lange steht am Schaufenster: „Warten lohnt!“ Ich finde das wirklich schrecklich und meine, ehrlich gesagt, dass nur Deutsche (entschuldigen Sie mich, wenn ich das so sage) solche Unsitten haben und diese Verkürzung in der Schweiz(er Werbung) noch nicht Einzug gehalten hat. Hm, ob das eine Folge der Handysprache ist, die ja eben Anspruch auf eine short Message erhebt?
Ich bin inzwischen auch fasziniert vom Genitiv. In Märchen findet man aber den Dativ:
„weh, weh Windchen, weh dem Kürtchen sein Hütchen“ (die Gänsemagd)
„heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Frau Königin ihr Kind“ (Rumpelstilzchen)
Aber ich bin total irritiert vom Dativ/Genitiv in Ausdrücken wie „trotz des schönen Wetters“. „Trotz dem schönen Wetter“ klingt logischer – es heißt ja auch „trotzdem“; „ich trotze dem…“ Hieß das früher so und hat sich nur so komisch eingeschliffen?
Bildzeitung schreibt heute: „der gleiche Elefant hat schon einmal einen Menschen bedroht …“ es müßte doch „der selbe Elefant“ heißen — oder irre ich mich.-So tragisch der Fall auch war: „Ein totes Kind wude in einem deutschen Kleiderkontainer gefunden. Später wurde auch ein weiteres totes Kind in einem anderen Land gefunden . Beide Kinder waren von der „gleichen“ Mutter“. Mir sträuben sich die Haare. Im Sprachgebrauch werden beide Wörter gar nicht verstanden.
Ist das Wort „selbe“ verschwunden, sagt man es nicht mehr?-Die Ehe ist geschieden worden. Jahre später hat er die „gleiche“ Frau wieder geheiratet.- Wie oft „gewunken“ gesagt wird.
Dieses sagt die Elite der Fersehansager oder auch Nachrichtensprecher, angeblich alles studierte Leute.
Ich danke mit einem herzlichen Gruß. G. Schwarz