Wie man Fisch, Wein und Brot vermehren kann, steht in der Bibel. Doch wie ist es mit Lauch, Milch und Sand? Dieses Kapitel gibt pluriforme Antworten auf singuläre Fragen und zeigt, wie man es fertigbringt, das Unzählbare zählbar zu machen.
Am Wochenende war mein Freund Henry bei seinen Eltern auf dem Land und kehrte wie üblich mit einem Kofferraum voller Gemüse zurück, das er bei mir loszuwerden hoffte. „Ich nehme die Hälfte der Kartoffeln, einen Kohlkopf und die Möhren, aber mehr nicht”, stellte ich klar. Damit wollte sich Henry aber nicht zufriedengeben. Er griff zwei Porreestangen aus dem Korb, schwenkte sie wie ein Cheerleader vor seiner Brust und rief: „So nimm denn auch – den leck’ren Lauch!“ Ich überlegte kurz und sagte: „Den gebe ich meiner Nachbarin!“ – „Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Henry, „Hauptsache, ich bin das Zeug los!“ Also packte ich den Porree in eine Tüte und hängte diese, da meine Nachbarin auf mein Klingeln nicht öffnete, an ihre Tür. Anderntags fand ich eine handschriftliche Notiz in meinem Briefkasten: „Vielen Dank für die Läuche!“ Als ich Henry den Zettel zeigte, dichtete er spontan: „Was der Feuerwehr die Schläuche, sind deiner Nachbarin die Läuche!“ Ich zuckte die Schultern: „Vielleicht wusste sie auch einfach nicht, wie man Porree schreibt!“
Von Erlebnissen dieser Art weiß fast jeder zu berichten. Denn jeder war schon mal auf der Suche nach der richtigen Mehrzahlform eines Wortes oder ist über eine besonders seltsame Variante gestolpert. Fakt ist: Eine ins sprachliche Unkraut geschossene Pluralbildung wie „Läuche“ ist keine singuläre Erscheinung. Der Aufklärungsbedarf in Pluralfragen ist immens. Wie die Umfrage eines Fernsehteams ergab, das im Auftrag des ZDF unterwegs war, wissen viele Deutsche nicht einmal, was das Wort „Plural“ überhaupt bedeutet. Kein Wunder also, dass die Mehrzahl uns immer wieder in Verlegenheit bringt.
Am Abend schrieb ich meiner Nachbarin ein Gedicht:
Ein gesunder runder Bauch
Freut sich über frischen Lauch.
Viele runde Bäuche
Freu’n sich über …
Lauch auch.
In der Schule hat man uns beigebracht, dass es Wörter gibt, die keine Pluralform besitzen, weil sie unzählbar sind, zum Beispiel Honig, Milch und Sand. Das leuchtete mir ein; denn wer zählt schon Sand? Bis ich kürzlich die E-Mail eines fast verzweifelten Lesers aus Rheinland-Pfalz erhielt. „Lieber Herr Sick! Meine Frau sammelt Sand! Von jedem Strand, an dem wir Urlaub machen, bringt sie eine Handvoll mit nach Hause und füllt es in ein Marmeladenglas. Sie hat bereits mehr als 50 verschiedene Sandgläser in unserer Wohnung verteilt. Wir streiten uns immer wieder über die Mehrzahl von Sand. Meine Frau sagt gern, sie sammele ,Sände‘. Ich behaupte, von Sand gibt es keine Mehrzahl. Sie sagt, sie habe bei Ihnen gelesen, dass es selbst von Wasser eine Mehrzahl gebe, daher müsse es auch Sände geben. Jetzt frage ich Sie: Hat meine Frau womöglich Recht?“
50 Reisen an 50 Urlaubsstrände haben offenbar noch nicht genügt, um den Mann zu der Einsicht gelangen zu lassen, die jeden Ehemann früher oder später ereilt: Die Frau hat immer Recht!
In diesem Fall hat sie allerdings nur zum Teil Recht. „Sand“ ist wider Erwarten zwar zählbar, aber die zulässige Mehrzahlform lautet „Sande“; die umgelautete Form „Sände“ steht in keinem Wörterbuch.
Ich schrieb dem Leser zurück, die Frage sei es nicht wert, dass er sich ihretwegen mit seiner Frau streite. Bedeutender sei die Gefahr, dass die Ehe irgendwann unter all den Marmeladengläsern versande. Er solle seine Frau beizeiten überreden, den Inhalt der Gläser in den Garten zu schütten, vielleicht ließe sich daraus eine Art Hausstrand anlegen, auf dem sie sich von ihren zahlreichen Reisen erholen könnten.
Ein paar Tage später schrieb er zurück: „Lieber Herr Sick, ich habe Ihren Rat befolgt und meiner Frau gesagt, sie solle den Sand in den Garten kippen. Da fragte sie: ,Welchen Sand meinst du? Den von Mallorca oder den von Sylt oder den von Kreta?‘ Da wusste ich mir keinen anderen Ausweg und rief: ,Alle Sände!‘ Sie hätten den Triumph im Blick meiner Frau sehen sollen! Damit hat sich meine Frage erledigt. Trotzdem meinen besten Dank!“ Und als PS stand noch: „Wie Sie sich selbst schon denken werden, hat meine Frau natürlich nicht ein einziges Sandglas geleert. Stattdessen haben wir jetzt zwei Wochen Tunesien gebucht!“
So schafft sich die Wirtschaft – je nach Bedarf – ihre eigenen Mehrzahlformen. Und der Bedarf ist offenbar groß, weshalb Manager auch gerne von „Bedarfen“ sprechen und selbst den Zuwachs noch in die Mehrzahl setzen und zu „Zuwächsen“ wachsen lassen. Über solche Auswüchse mag man denken, wie man will. Immerhin zeigt es, dass die deutsche Sprache alles andere als starr und anpassungsunfähig ist. Deutschland ist zwar nicht das gepriesene Land, in dem Milch und Honig fließen. Aber dafür ist Deutsch die Sprache, in der Milche und Honige fließen können!
(c) Bastian Sick 2010/2013
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.