Wer glaubt, das Thema Irak sei erledigt, befindet sich im Irrtum. Für die Historiker ist der Konflikt noch lange nicht beendet. An der Frage, unter welchem Namen der Krieg in die Geschichte eingehen soll, scheiden sich die Geister. Unter den Chronisten tobt ein Kampf um Zahlen.
Am Anfang war ein Déjà-vu. Wieder entsandten Amerikaner und Briten Flugzeugträger und Truppen in den Mittleren Osten, um ein Land von Saddam Hussein zu befreien, wieder wurde ein Wüstensturm entfesselt, wieder fielen Bomben, wieder schlugen angebliche Präzisionsgeschosse in angeblich strategische Ziele ein. Und wieder sprach man von einem Golfkrieg, genau wie 1991. Und um diesen neuen Krieg vom alten unterscheiden zu können, nannte man ihn „den zweiten Golfkrieg“. So weit, so gut. (Falls man „Krieg“ und „gut“ überhaupt in einem Atemzug nennen kann…)
Dann kamen plötzlich die Historiker und brachten alles durcheinander. Vom zweiten Golfkrieg könne nicht die Rede sein, dies sei mindestens schon der dritte. Denn als 1980 die Iraker in Iran einfielen und sich mit den Persern einen acht Jahre währenden blutigen Kampf lieferten, war schon einmal das Schlagwort „Golfkrieg“ in aller Munde. Übrigens ging es auch damals schon um Öl, auch damals hieß eine der Hauptfiguren Saddam Hussein, und auch damals spielten Massenvernichtungswaffen eine entscheidende Rolle. Und tatsächlich: Wer in alten Zeitungen oder in Chroniken der achtziger Jahre blättert, dem wird auf nahezu jeder Seite das Wort „Golfkrieg“ begegnen. Benannt nach dem Persischen Golf, an den die beiden beteiligten Länder grenzen, der Irak ein bisschen, Iran ein deutliches Stück mehr.
Wenn also schon der Irak-Iran-Krieg ein Golfkrieg war, dann handelte es sich bei der „Operation Desert Storm“ im Jahre 1991 folglich bereits um den zweiten Golfkrieg. Und der jüngst so überraschend häuserkampflos, aber womöglich doch noch nicht ganz zu Ende gegangene erneute Kreuzzug der Alliierten gegen die dunkle Seite der Macht am Tigris müsste demnach korrekterweise als der „dritte Golfkrieg“ in die Geschichte eingehen. Aus Sicht der Iraker ist diese Zählung sogar schlüssig: In den 24 Jahren seiner Herrschaft hat Saddam Hussein exakt drei Kriege gegen andere Länder geführt, die alle drei am Golf stattfanden. Alle drei verlustreich, alle drei sieglos.
Aus Sicht der westlichen Welt, speziell der Amerikaner, ergeben die drei Kriege allerdings keine zusammengehörende Reihe. Zwar lässt sich die Tatsache nicht leugnen, dass die USA auch im Golfkrieg der achtziger Jahre ihre Finger mit im Spiel hatten, aber noch hatten sie keine Hauptrolle, und vor allem standen sie auf der falschen Seite, nämlich auf der Saddam Husseins. Okay, die andere kam auch nicht in Frage, auf der wurden schließlich Stars-and-Stripes-Banner verbrannt und US-Bürger in Geiselhaft gehalten. Aber heute wäre es den Amerikanern sicherlich lieber, dieser erste Golfkrieg hätte nie stattgefunden. Dann könnte man den zweiten beruhigt den ersten nennen und den dritten den zweiten, das würden alle viel besser verstehen, vor allem in den USA.
Ganz ohne öffentliche Diskussionen und Historiker-Streit wurde das Problem der Golfkriegsnummerierung in einigen Nachrichtenredaktionen inzwischen auf pragmatische Weise gelöst, indem man sich einfach einen neuen Namen ausgedacht hat. Statt „Golfkrieg“ heißt es nur noch „Irak-Krieg“. Der zwölf Jahre zurückliegende Kampf um Kuweit wird „Golfkrieg von 1991“ oder auch „Kuweit-Krieg“ genannt, und von dem, was in den achtziger Jahren geschah, will ohnehin niemand mehr was wissen.
Bleibt nur zu hoffen, dass Jeb Bush, wenn er in einigen Jahren die Nachfolge seines Bruders auf dem Präsidententhron antritt, nicht auf die Idee kommt, seinerseits einen Krieg gegen den Irak zu führen. Denn die Frage, ob das der dritte oder vierte Golfkrieg oder der zweite oder dritte Irak-Krieg wäre, würde Historiker und Journalisten vermutlich dauerhaft in erbitterte arithmetische Grabenkämpfe verwickeln.
(c) Bastian Sick 2003