Der Mensch ist ein soziales Wesen, das heißt, er kommt ohne Ansprache nicht aus. Doch damit beginnen die Schwierigkeiten: Wann sagt man „du“ und wann „Sie“? Die Wahl des richtigen Anredepronomens ist manchmal eine äußerst heikle Sache.
Das Älterwerden bringt manche Probleme mit sich. Man stellt fest, dass man beim Laufen schneller außer Atem gerät als noch mit Anfang zwanzig, der Körper braucht länger, um sich von Alkoholexzessen zu erholen, man behält am Strand lieber mal das T-Shirt an und fühlt sich auf Massenveranstaltungen zunehmend unwohl. Und noch etwas ändert sich: Der Umgang mit Gleichaltrigen. War es mit zwanzig noch ganz selbstverständlich, jemanden, der ungefähr im gleichen Alter war, mit Du anzusprechen, so will die Wahl des korrekten Anredepronomens ab dreißig gut überlegt sein.
Natürlich ist es auch immer eine Frage des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Mein 22-jähriger Neffe, der seit Kurzem studiert, duzt natürlich alle Kommilitonen, auch die älteren, so wie es zu meiner Studentenzeit auch schon war. Aber den gleichaltrigen Angestellten in der Bank siezt er — wegen des förmlicheren Umfelds, wie er sagt. Nach meiner Grundausbildung bei der Luftwaffe war ich derart eingeschüchtert, dass ich sogar einen Obergefreiten gesiezt habe, obwohl der gerade mal ein halbes Jahr älter war als ich, nur weil er einen Streifen mehr auf der Schulter hatte. Der klärte mich darüber auf, dass frühestens ab Unteroffiziersrang gesiezt würde, und nach ein paar Wochen im Schichtdienst und einigen feuchtfröhlichen Feiern siezte ich nicht einmal mehr den Hauptfeldwebel.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie aufregend es war, als wir in der 10. Klasse plötzlich von den Lehrern gesiezt wurden. Vor den Sommerferien hatte es noch „Bastian, hör auf zu schwatzen!“ geheißen, und nach den Sommerferien dann: „Bastian, bitte mäßigen Sie sich!“ Welch eine Aufwertung! Bei einer solchen Anrede fiel es mir nicht schwer, mich zu mäßigen. Wenigstens für die nächsten zehn Minuten.
In früheren Jahrzehnten war das Siezen auch unter jüngeren Menschen gleichen Alters üblich. Das kann man noch heute in Spielfilmen aus den fünfziger und sechziger Jahren sehen, in denen sich die jungen Hauptdarsteller zunächst ganz förmlich mit „Sie“ anreden — bis es zum ersten Kuss kommt. Danach geht es nahtlos in „du“ über.
Infolge des gesellschaftlichen Wandels nach 1968 ist das Siezen in vielen Bereichen stark zurückgegangen. Heute duzt man sich auch schon vor dem ersten Kuss. Auch unter Arbeitskollegen findet man heute schneller zum Du als noch vor dreißig oder vierzig Jahren. In einigen Einzelhandelsunternehmen wird allerdings erwartet, dass die Kollegen einander beim Nachnamen rufen, und so kommt es gelegentlich zu kuriosen Situationen, wenn nämlich die Verkäuferin an der Kasse ihre Kollegin um Hilfe bittet und einmal quer durch den Laden ruft: „Frau Maier, kannst du mal kommen, ich brauch ein Storno!“
Bei Ikea wird man fast ständig und überall geduzt. Das hat aber nichts mit lockeren Manieren oder einem neuen Kumpeldenken zu tun, sondern ist Teil der Imagekampagne. Weil Ikea ja aus Schweden kommt und die Schweden sich untereinander alle duzen, wird auch der deutsche Kunde geduzt — um ihm ein Gefühl von „tipis sverige Snörrigkeit“ zu vermitteln. Den Werbespruch „Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ kann man noch als forsch-frische Provokation stehen lassen, die vor allem an eine jüngere Zielgruppe gerichtet ist. Doch Kunden ab Mitte vierzig stutzen, wenn ihnen in ihrer örtlichen Ikea-Filiale über Lautsprecher die neuesten Angebote entgegengeduzt werden: „Hej, jetzt kannst du dein Badezimmer komplett neu einrichten und dabei noch sparen!“ oder „In unserem Restaurant warten heute wieder viele leckere Spezialitäten auf dich!“
Wenn du sie nicht gewohnt bist, kann dir diese Duzerei schnell etwas penetrant vorkommen. Denn bei Ikea wird selbst dort die Du-Ansprache praktiziert, wo im herkömmlichen Hinweis-Deutsch auf eine direkte Ansprache verzichtet würde. „Gib hier deinen Leihkatalog ab!“, liest man zum Beispiel auf einem Schild. Wir Deutschen sind so etwas nicht gewohnt, wir kennen es einfacher und kürzer: „Hier Katalogrückgabe“.
Richtig lustig wird es, wenn zwischen den Bandansagen plötzlich ein Zwischenruf des deutschen Personals ertönt. Dann ist es mit der Duz-Herrlichkeit nämlich schlagartig vorbei: „Gesucht wird der Halter des Fahrzeugs mit dem Kennzeichen DU DA 496. Bitte melden Sie sich umgehend an der Information!“ Hier wird die „brand language“, die Markensprache, nicht eingehalten. Aus gutem Grund. Hieße es „du“ statt „Sie“, könnte man denken, es würde nach einem Kind gesucht, das aus Småland ausgebrochen ist.
Den Kunden freut’s, wenn’s was im Dutzend billiger gibt, aber nicht jeder billigt das Duzen. Das gilt auch für manche Mitarbeiter. Ein Angestellter des Bekleidungshändlers Hennes & Mauritz hat sogar gegen die von oben verordnete Duzerei geklagt. Doch das Gericht konnte keine Verletzung der Menschenwürde feststellen, verwies stattdessen auf die „Üblichkeit im Betrieb“ und entschied zugunsten des Beklagten. Da wird manch einer in der Firmenleitung von H&M aufgeatmet und gedacht haben: „Herr Richter, ich danke dir!“
Berauscht vom Wir-Gefühl der Fußballweltmeisterschaft stellte die „Bild“-Zeitung ihren Lesern im Sommer die Frage: „Wollen wir uns alle duzen?“ Als Befürworter der wahllosen Rudelduzerei wurde unter anderem Dieter Bohlen genannt. Der hatte sich sein persönliches Grundrecht, einen Polizisten zu duzen, immerhin gerichtlich verbriefen lassen. Als weiterer Kronzeuge in Sachen „Du, du, du!“ wurde der Pressesprecher von Ikea zitiert: „Bei uns wird nur der König gesiezt!“ Was eigentlich zur Folge haben müsste, dass bei Ikea-Deutschland das „Du“ wieder abgeschafft wird, denn in Deutschland ist schließlich jeder Kunde ein König. Aber das wissen die bei Ikea vielleicht nicht.
Kinder im Vorschulalter duzen alles und jeden, die Kindergärtnerin genauso wie den Nachbarn und die Eltern der Spielfreunde. Irgendwann machen sie die verwirrende Entdeckung, dass sich die Welt der Erwachsenen in Dus und Sies teilt. Die Umstellung auf das „Sie“ erfolgt aber nicht von einem Tag auf den anderen, schließlich muss man sich erst daran gewöhnen. So wurde unsere Grundschullehrerin im ersten Jahr von vielen noch geduzt, während andere Schüler sich bereits aufs Siezen eingestellt hatten.
Vor der Wasserrutsche in der Alsterschwimmhalle herrscht immer starker Andrang. Als ich nach geduldigem Warten endlich an der Reihe bin, kommt ein ungefähr sechsjähriger Junge wie aus dem Nichts angeschossen, noch triefend von der letzten Rutschpartie, und fragt mich atemlos: „Kann ich vor dir?“ Ich lächle ihn an und nicke. Er nimmt Anlauf und hüpft hinein ins Vergnügen. So einfach kann das Leben manchmal sein.
(c) Bastian Sick 2006
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.