Heißt es Schadensersatz oder Schadenersatz? Zahlt man Einkommensteuer oder Einkommenssteuer? Immer mehr Begriffen scheint der vertraute S-Laut in der Mitte abhanden zu kommen. Das muss man sich jedoch nicht gefallen lassen. Ein Plädoyer für gut geschmierte Sprache und gegen unsinniges Amt(s)deutsch.
„Das heißt Essenmarken und nicht Essensmarken“, bellt der Unteroffizier den Rekruten an, „es heißt ja auch nicht Bratskartoffeln und Spiegelsei!“ Diesen Spruch wiederholt er am Tag mindestens zwanzig Mal, und es bereitet ihm immer wieder Genuss, einem unbedarften Brenner* eine laute Lektion in Sachen Amtsdeutsch erteilen zu können. Das gibt ihm ein Gefühl von Überlegenheit und Macht. Zum Glück kommen jedes Quartal neue Wehrpflichtige, die ihn garantiert fragen werden, ob sie bei ihm „Essensmarken“ bekommen können. Und wenn es nicht die Marken sind, dann ist es das berühmte „Dreiecktuch“, das früher oder später jemand „Dreieckstuch“ nennen wird. So wird der Unteroffizier noch viel zu bellen haben und sich immer wieder der Illusion von Überlegenheit und Macht hingeben können.
Wenn ihm einer frech kommt, kann er sich auf die Dienstvorschriften berufen, denn da steht „Essenmarken“. Und Vorschrift ist Vorschrift, wie jeder weiß, dagegen kann selbst ein Literaturnobelpreisträger nichts ausrichten. Außerhalb seiner Kaserne gilt diese Vorschrift allerdings nicht. Außerhalb seiner Kaserne sagen die meisten Menschen „Essensmarken“, mit so genanntem Fugen-s, und das mit Fug und Recht. Außerhalb der Kaserne sagen sie auch Dreieckstuch. Dort herrscht Freiheit der Sprache, und Freiheit bedeutet Vielfalt und nicht selten Verunsicherung.
Warum heißt es Mordsspaß, aber Mordopfer? Warum sagen wir Rindsleder, aber Rindfleisch? Warum haben Schiffstaufe und Schiffsschraube ein Fugen-s, Schifffahrt und Schiffbruch aber nicht? Wer legt fest, ob und womit die Nahtstelle zwischen zwei zusammengeschweißten Wörtern verfugt wird?
Die Antwort auf diese Fragen liegt irgendwo im Nebel der Sprachgeschichte. Die meisten dieser Fügungen sind historisch gereift. Bei einigen handelt es sich um zusammengewachsene Wortgruppen, bei denen das Fugenzeichen den Genitiv markierte: des Königs Hof wurde zum Königshof, des Herzens Freude zur Herzensfreude.
Andere Fügungen wurden in Analogie zu bereits bestehenden Formen gebildet: Auch wenn sich auf einer Bischofskonferenz mehrere Bischöfe zu treffen pflegen, heißt es dennoch nicht Bischöfekonferenz, denn man orientierte sich bei der Wortbildung an bekannten Komposita wie Bischofsstab und Bischofswürde. Der Versuch, eindeutige Regeln zu definieren, ist zum Scheitern verurteilt. Dafür ist das Gebiet zu unübersichtlich, vermeintliche Gesetzmäßigkeiten zu widersprüchlich und von Ausnahmen durchlöchert wie ein mottenzerfressener Umhang. Aber wir haben uns daran gewöhnt. Dass es nicht Bratskartoffeln und Spiegelsei heißt, sagt uns unser Sprachgefühl. Was uns heute am meisten zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass immer wieder neue Begriffe auftauchen, denen das vertraute Fugen-s abhanden gekommen zu sein scheint.
Wer schuldlos in einen Unfall verwickelt wird, hat in der Regel Anspruch auf Schadensersatz. Die Versicherung gewährt ihm aber allenfalls Schadenersatz. Geflissentlich ignoriert sie Schadensfälle und Schadensmeldungen; wenn überhaupt, dann registriert sie einen Schadenfall und eine Schadennummer und verlangt Angaben zu Schadentag und Schadenhergang.
Ist das nun richtig oder falsch? Heißt es nicht „des Schadens Ersatz“, und wäre dann nicht Schadensersatz die korrekte Form? Es gibt einiges, was dafür spricht. Zum Beispiel das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), dort ist ausschließlich von Schadensersatz die Rede.
Wie man weiß, nehmen Versicherungen gerne Geld ein, tun sich aber mit dem Auszahlen schwer. Daher behalten sie bei Schadensersatzzahlungen wenigstens das „s“ ein, das gibt ihnen das Gefühl, den Versicherungsnehmer am Ende doch noch ein bisschen übervorteilt zu haben. Ein kleiner Triumph in der Niederlage, kein Schaden ohne Schadenfreude.
Ähnliches Kopfzerbrechen wie der Schadensersatz bereitet vielen Deutschen immer wieder ihre Einkommenssteuererklärung. Man hört und sieht alle Arten der Steuer nämlich auch immer mal ohne das Fugen-s, vorzugsweise in amtlichen Schreiben, aber auch in Zeitungen und Magazinen wie dem SPIEGEL. Einkommen[s]steuer, Vermögen[s]steuer, Unternehmen[s]steuer – wer soll sich da noch auskennen? In ihrem Bestreben, alles zu vereinheitlichen, hat die behördliche Sprachregelung das Fugen-s vor jeglicher Form der -steuer für abgeschafft erklärt. Da es auch nicht Tabakssteuer und Hundessteuer heiße, könne es folgerichtig auch nur Grunderwerb- und Körperschaftsteuer heißen.
Genauso wird mit Zusammensetzungen im Rechtswesen verfahren: Mit der Begründung, dass es schließlich nicht Mietsrecht und Tarifsrecht heiße, wird in einigen Amt[s]stuben bereits nur noch von „Vertragrecht“ und „Wirtschaftrecht“ gesprochen.
Behördendeutsch ist seit jeher bemüht, sich allgemeiner Verständlichkeit zu entziehen, und so ist die Einsparung des Fugenzeichens nur eine weitere Kürzungsmaßnahme auf dem Weg zur vollständigen Entfremdung von den Bürgern und ihrer Sprache.
Dienstvorschriften, Versicherungsschreiben, Steuererklärungen – der Zusammenhang ist offenkundig: Es sind die Bürokraten, die das Fugen-s verschwinden lassen, eines nach dem anderen, so wie es die grauen Herren in Michael Endes „Momo“ mit der Zeit taten. Der Schwund des Fugenzeichens breitet sich immer weiter aus, vom Praktikum[ ]bericht über den Studium[ ]beginn bis zur Diplom[ ]feier und macht aus Wohnungssuchenden Wohnungsuchende und aus Arbeitssuchenden Arbeitsuchende, wenn nicht gar Arbeit Suchende. Das braucht man allerdings nicht widerspruch[ ]los hinzunehmen, so wie auch Momo sich den Diebstahl der Zeit nicht gefallen ließ. Denn sowohl im Schadensfall als auch beim Vertragsrecht und erst recht bei der Körperschaftssteuer hat das Fugen-s durchaus seine Berechtigung. Neben historischen Gründen zählt auch die Sprechbarkeit der Wörter.
Dort, wo das Fugen-s unaussprechlich wäre, dort gehört es auch nicht hin. Es soll ja die Fuge zwischen zwei Wörtern glätten, nicht dieselbe zu einer Zungenhürde machen. Sprechen Sie einmal Verwaltunggebäude, Entwicklunghilfe und Kündigunggrund ohne „s“ aus, und Sie werden feststellen, dass es nicht nur blöde klingt, sondern auch schwerer zu artikulieren ist. Das Fugen-s wurde auch deshalb eingefügt, um das Wort leichter über Zunge und Lippen zu bringen. Eine Aussprachehilfe, gewissermaßen.
Wer das Gefühl hat, dass bei Wörtern wie Schadenersatz, Einkommensteuer, Diplomparty und Essenmarke die Scharniere quietschen, der soll getrost zum Ölkännchen greifen und ein Fugen-s hineinträufeln. So wie die Kehle regelmäßig geschmiert werden muss, so müssen auch manche Wortfugen geschmiert werden, damit die Sprache nicht ins Stocken gerät.
Ein Versicherungsangestellter, der täglich „Schadenfälle“ und „Schadennummern“ bearbeitet, mutiert irgendwann zum Versicherung-Angestellten, und ein Unteroffizier, der nicht im Stande ist, über den Tellerrand seiner „Essenmarken“-Vorschrift hinauszublicken, wird hoffentlich nie einen Offiziersgrad erlangen.
* Brenner, auch: Zecken, Rotärsche – Bundeswehrjargon für Anfänger, Rekruten, Wehrpflichtige in der Grundausbildung
(c) Bastian Sick 2004
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.
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Also, bei den Bratskartoffeln bin ich mir nicht sicher, sind die nicht nach ihrem Erfinder Johannes Brats benannt, der 1753 die ersten Kartoffelscheiben mit Zwiebel- und Speckwürfelchen in heißem Fett in einem niedrigen Stieltopf zubereitete? Darum heißt dieser ja heute auch noch Brat(s)pfanne.
Es wäre nicht schlecht, wenn die Herrschaften, die die Werbung mit dem Schaf[]käse aus Schaf[]milch (Salakis) verbrochen haben, sich diesen Artikel auch einmal zu Gemüte führen würden.
„Es heißt ja auch nicht Bratskartoffeln“ ist ein wunderbares Beispiel. Mit der Aussage bellte mich auch mal ein spezieller Unteroffizier an, als ich „Offizier.s.lehrgang“ sagte. Ich entgegnete damals „es heißt aber doch Bundeswehr und nicht Bundwehr“ 🙂
Viele Grüße
M. Müller
Ich darf darauf aufmerksam machen, dass die Erbschaftssteuer in Österreich die einzige Steuerart ist, die man mit Fugen-S schreibt.