Heißt es „im Sommer dieses Jahres“ oder „im Sommer diesen Jahres“? Immer wieder erreichen den „Zwiebelfisch“ Hilferufe und Appelle von Lesern, die um Klarstellung dieses (oder diesen?) Sachverhalts bitten. Daher veröffentlichen wir an dieser Stelle noch einmal die Geschichte von Rotkäppchen und dem Weswolf.
Munter singend läuft das Rotkäppchen durch den Wald, in der Hand den Korb mit Kuchen und Wein für die Großmutter. Da erscheint der Wolf und spricht: „Hallo, mein Kind, so spät noch unterwegs?“ – „Grüß dich, Wolf!“, ruft das Rotkäppchen furchtlos, „wie geht’s?“ – „Phantastisch!“, sagt der Wolf, „ich habe mir Anfang diesen Jahres einen roten Sportwagen gekauft, der ist einsame Spitze! Wenn du willst, kann ich dich ein Stück mitnehmen!“ – „Einen Sportwagen? Ich glaub dir kein Wort!“ – „Doch, doch, er steht gleich dort drüben zwischen den dunklen, finsteren Tannen, hähä.“ – „Der ist doch bestimmt geklaut!“, sagt das Rotkäppchen. Der Wolf hebt feierlich die Pfote: „Ich schwör bei deiner roten Kappe, ich habe ihn gekauft! Das heißt, vorläufig noch geleast, aber spätestens im Sommer diesen Jahres gehört er mir. Was ist, Bock auf eine Spritztour?“ – „Nein danke“, erwidert das Rotkäppchen, „ich gehe lieber zu Fuß.“ Und naseweis fügt es hinzu: „Übrigens heißt es ,zu Anfang und im Sommer dieses Jahres‘.“ Damit springt es singend davon. Der Wolf denkt verächtlich: „Blöde Göre! Ob ich dich im Sommer diesen Jahres oder im Sommer dieses Jahres fresse, worin liegt da der Unterschied? Fressen werde ich dich so oder so!“
Jacob Grimm war nicht nur berühmter Märchensammler, sondern auch ein bedeutender Sprachwissenschaftler. Mit seinem „Deutschen Wörterbuch“ legte er den Grundstein für die Vereinheitlichung der deutschen Sprache. Sein Wolf hätte daher auch die korrekte Beugung des Demonstrativpronomens „dieses“ gewusst. Der Wolf in obiger Rotkäppchen-Variation indes kennt sich nicht aus mit der Grammatik, vielleicht handelt es sich bei ihm um einen Weswolf (eine Nebenform des Werwolfs), vielleicht hat er aber auch einfach nur zu viel ferngesehen oder Zeitung gelesen, denn dort wird einem die falsche Genitiv-Form pausenlos um die Ohren geschlagen.
„Die Bundesregierung will den Zivildienst im Herbst diesen Jahres von zehn auf neun Monate kürzen“, schreibt zum Beispiel die „Bild“-Zeitung. Und die „WAZ“ weist darauf hin, dass die Bewerbungsfrist für die Kulturhauptstadt Europas „im März diesen Jahres“ abläuft.
Doch die Weswölfe hausen längst nicht nur im Boulevard-Journalismus, sondern überall: „Nach derzeitigem Stand will die EU Ende diesen Jahres über einen solchen Fahrplan entscheiden“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“. Und der „Tagesspiegel“ berichtet: „Mit einem neuen Gesetz will die rot-grüne Bundesregierung ab Sommer diesen Jahres die Schwarzarbeit in Deutschland stärker bekämpfen.“ Selbst das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gibt voller Stolz bekannt: „Wir haben gerade zum 1. Januar diesen Jahres die Steuern gesenkt.“ Da glaubt man in Berlin endlich einmal etwas richtig gemacht zu haben, und prompt enthält es wieder einen Fehler.
Viele Menschen sind offenbar überzeugt davon, „dieser“ und „dieses“ müssten schwach gebeugt werden, also im Genitiv ein „n“ bekommen. Das wäre richtig, wenn „dieser“ und „dieses“ Adjektive wären. Bei Ausdrücken wie „letzten Endes“ oder „frohen Mutes“ steht ein „n“, weil es sich dabei um Adjektive handelt. Aber „dieser“ und „dieses“ sind keine Adjektive, sondern Pronomen (fachsprachlich auch: Pronomina), und die werden stark gebeugt. Meine Großeltern sind schließlich nicht „die Eltern meinen Vaters“, und das „Geheimnis seines Erfolgs“ liegt nicht im „Geheimnis seinen Erfolgs“.
Besonders schwer haben es die Rotkäppchen in Ostdeutschland – im sächsischen Blätterwald lauern die Wölfe gleich rudelweise. In der „Sächsischen Zeitung“ gibt es fast täglich mindestens eine Stelle, an der die falsche Genitiv-Form zum Einsatz kommt. Drei Beispiele, alle in einer einzigen Ausgabe (vom 9. Januar dieses Jahres) gefunden:
· Im Sommer diesen Jahres soll der Umbau des Gebäudes abgeschlossen werden.
· Ende diesen Jahres wird bestimmt wieder ein immergrüner Baum in Bischofswerda den Altmarkt schmücken.
· Bei der Sportlerehrung im Landratsamt Bautzen wurden im März diesen Jahres auch zwei Wehrsdorfer geehrt.
Man ist schon versucht zu glauben, dies sei der berühmte sächsische Genitiv, von dem man im Schulunterricht gehört hat. Doch die Ver-Beugung dieses Pronomens ist ein gesamtdeutsches Phänomen. Mag die Sprache uns bisweilen auch trennen, die Sprachirrtümer führen uns wieder zusammen.
Wer dieses sagt, der muss auch jenes sagen. Wer also vom „Herbst diesen Jahres“ spricht, der muss auch den „Frühling jenen Jahres“ für richtig halten. Und tatsächlich: An die „Terroranschläge vom 11. September jenen Jahres“ erinnert man sich bei der „WAZ“, und die „Frankfurter Rundschau“ schreibt zum Jubiläum einer bunten Schweizer Armbanduhr: „Ganze zwölf Modelle waren es zunächst, die im Herbst jenen Jahres für einheitlich 50 Franken in den Handel kamen.“ Das Verflixte dieses Jahres liegt an seiner Ähnlichkeit zu Wendungen, bei denen die schwache Beugung korrekt ist: im Mai vergangenen Jahres, im Sommer nächsten Jahres, nicht vor Ablauf kommenden Monats. So trat „diesen“ durch Analogiebildung vor das Wort „Jahres“ und vertrieb „dieses“ von seinem angestammten Platz. Noch spricht man zwar nicht vom „Zauber diesen Augenblicks“, vom „Ende diesen Liedes“ oder von der „Mutter diesen Kindes“. Das wird sich aber vielleicht noch ändern. Einen Tages.
Die Rotkäppchen dieses Landes trifft ein hartes Los. Im Haus der Großmutter angekommen, findet das brave Kind die alte Dame seltsam verändert vor. „Großmutter, was hast du für große Ohren?“, fragt es verwundert. Die vermeintliche Großmutter lässt die Zeitung sinken, schielt über den Rand der dicken Brille und sagt: „Kindchen, Kindchen, nerv mich nicht mit deinen Fragen! Stell den Wein auf den Tisch und scher dich weg! Ich verdaue gerade deine zähe Oma und will bis zum Ende diesen Winters meine Ruhe!“
dieser, diese, dieses |
|||
|
männlich |
weiblich |
sächlich |
Nominativ |
dieser Mann |
diese Frau |
dieses Jahr |
Genitiv |
dieses Mannes |
dieser Frau |
dieses Jahres |
Dativ |
diesem Mann(e) |
dieser Frau |
diesem Jahr(e) |
Akkusativ |
diesen Mann |
diese Frau |
dieses Jahr |
Klingt grundsätzlich logisch (und richtig), aber eine Frage hätte ich doch. Auf duden.de wird unter dem Stichwort „Jahr“ der Hinweis gegeben:
„dieses (besser nicht diesen) Jahres (Abkürzung d. J.)“.
Und „besser nicht“ klingt für mich eher nach uneleganter Formulierung, nicht nach Fehler. Ist demnach also „diesen Jahres“ zwar grammatisch unsauber, aber erlaubt?
Lieber Andreas! Der Duden ist in den letzten 20 Jahren immer mehr von der Idee eines verbindenden und verbindlichen Sprachstandards abgewichen zugunsten einer populistischen „Wie die meisten es machen, so sei es“-Attitüde. Daher überrascht mich die von Ihnen zitierte Auskunft nicht. Eine Unterscheidung zwischen „erlaubt“ und „nicht erlaubt“ ist allerdings nicht sinnvoll, denn Abweichungen vom Sprachstandard sind nicht verboten. Sonst wären ja 98 Prozent aller Deutschen vorbestraft!
Wie sagte doch schon Hermann Hesse treffend:
„Die Deutschen sind ein Volk mit bescheidenen literarischen Ansprüchen…(in welchem auf zehntausend noch nicht einer kommt, der in Rede oder Schrift seine eigene Sprache wirklich beherrscht, und wo man sowohl Minister wie Universitätsprofessor werden kann, ohne Deutsch zu können).“
Man könnte als Erinnerungshilfe auch die bestimmten Artikel anführen, die genauso dekliniert werden wie die Demonstrativpronomen:
der-dieser/ den-diesen/ die-diese/ des-dieses/ etc.
Danke! Ich habe es bisher nur geahnt. Die „Geschichte von Rotkäppchen und dem Weswolf“ kannte ich nämlich noch nicht.
Ihr Kommentar wird überprüft
Lieber Herr Jung, dann kennen Sie wahrscheinlich auch das Werwolf-Gedicht von Christian Morgenstern noch nicht. Hier ist es:
Der Werwolf
Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind, und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!
Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:
„Der Werwolf“, – sprach der gute Mann,
„des Weswolfs“- Genitiv sodann,
„dem Wemwolf“ – Dativ, wie man’s nennt,
„den Wenwolf“ – damit hat’s ein End.‘
Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!
Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar,
doch „Wer“ gäb’s nur im Singular.
Der Wolf erhob sich tränenblind –
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.
Da ich kein Gelehrter eben, scheid ich dankend und ergeben und füge hier noch an, was ich beim Stöbern aufgetan:
Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich:
So hab ich erstens den Gewinn,
Dass ich so hübsch bescheiden bin;
Zum Zweiten denken sich die Leut‘,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp‘ ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;
Und viertens hoff‘ ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
Dass ich ein ganz famoses Haus.
(Wilhelm Busch: Die Selbstkritik hat viel für sich)
Hi, Herr Bastian Sick, mit meiner eigenen begrenzten Kenntnis
der Deutschen Grammatik, zu diesem Zeitpunkt meines Lebens auf jeden Fall, finde ich sehr hilfreich, ausführlicher zu sein, indem man
„im Frühjahr dieses Jahres“ oder „die Tage dieses Monats“ hinzuzufügen. In gleichartigen Satzkonstruktionen weiß man sofort, was richtig oder falsch ist.
Vielleicht bin ich hier begrenzt in meiner Erklärung, aber 50 Jahre
Amerika haben meine, wenn auch guten, Schulkenntnisse sehr
beeinflusst. – Mea culpa,
Grüße, Helmi
Sehr geehrter Herr Sick, vor wenigen Tagen sah ich mich erstmals auf Ihrer Website um. Da ich hier zu meiner Überraschung diesen verflixten Artikel vorfand, den ich bereits im Jahre 2008 das erste Mal in einem Ihrer Bücher gelesen hatte, kamen mir sogleich auch einige Fragen von damals wieder in den Sinn – und selbstverständlich ein paar neue.
In der Deklinationstabelle kennzeichnen Sie sowohl beim männlichen als auch beim sächlichen Substantiv das „e“ der Dativ-Endung als optional. Warum verfahren Sie mit dem „e“ der entsprechenden Genitiv-Endungen nicht ebenso?
Das Idiom „jemandem etwas um die Ohren hauen/schlagen“ kenne ich – ebenso wie mein Deutsches Universalwörterbuch (Duden-Verlag, 6. Auflage, Mannheim 2007), aus dem ich zitiere – nur in der Bedeutung „jemandem wegen etwas heftige Vorwürfe machen; jemanden für etwas heftig kritisieren“. Meinen Sie in Ihrem Artikel, dass man im Fernsehen und in der Zeitung für die falsche Genitiv-Endung pausenlos heftig kritisiert werde, oder haben Ihre Worte eine andere Bedeutung?
Warum schreiben Sie die Satzanfänge „wie geht’s“ und „ich habe mir“ der wörtlich wiedergegebenen Reden klein?
Ist „Sachsverhalts“ eine Kurzform des Verhaltens der im Artikel angesprochenen Sachsen? Oder ist hier neben dem Determinatum auch dem Determinans ein Genitiv-s angefügt worden? Oder handelt es sich gar um eine – doch kaum notwendige – Epenthesis?
Mit freundlichen Grüßen
Romain Vitzthum
Und wie ist es mit dem letzten Jahr?
Dass es „im Herbst dieses Jahres“ heißt, leuchtet mir ein, einfach zu merken, analog zu „im Herbst des Jahres 2015“, nicht „den Jahres 2015“.
Aber müsste es dann nicht auch heißen „im Herbst letztes Jahres“? Klingt komisch! Ich würde intuitiv schreiben „im Herbst letzten Jahres“, wobei ein „des“ unausgesprochen mitgedacht ist, also verkürzt von „im Herbst des letzten Jahres“. Aber ist das richtig?
Danke!