Sonntag, 20. Oktober 2024

Ich bin die gelbe Markise

Jeder Tierfreund ist darüber entsetzt, dass Haustiere vom Gesetzgeber wie Sachgegenstände behandelt werden. Dabei haben die meisten Menschen im sprachlichen Alltag keine Bedenken, sich selbst zu einem Gegenstand zu machen.

„Wo hast du geparkt?“, fragt mich Henry, als wir mit unseren Einkäufen den Supermarkt verlassen. Ich deute auf die andere Straßenseite und sage: „Ich stehe gleich dahinten, vor dem weißen Lieferwagen!“ Henry wirft mir einen kritischen Blick zu: „Im Augenblick stehst du neben mir, mein Lieber, vor dem Eingang des Supermarktes.“ Ich verdrehe die Augen: „Also schön: Mein Wagen steht dahinten, Monsieur Erbsenzähler!“ Henry lacht und sagt: „Du scheinst dein Auto wirklich zu lieben, wenn du dich derart mit ihm identifizierst.“ Während wir die Straße überqueren, erwidere ich: „Es ist ein völlig normaler Prozess der Umgangssprache, Dinge zu verkürzen. Statt ,Ich habe dort hinten geparkt‘ sagt man eben ,Ich stehe dort hinten‘. Jeder versteht schließlich, was damit gemeint ist.“ – „Das stelle ich keinesfalls in Frage“, sagt Henry, „ich finde es nur drollig, das ist alles.“

Henry hat Recht: Sprachökonomie ist nicht nur nützlich, sondern birgt mitunter auch eine unfreiwillige Komik, die sich in dem Moment offenbart, in dem man das Gesprochene wörtlich nimmt.

Immer wieder geschieht es, dass Menschen sich aus freien Stücken und ohne Rücksicht auf Ansehen und Würde zu Objekten degradieren. Männer werden zu Autos, Frauen zu Möbeln und Bekleidungsstücken, so wie ich es erst kürzlich wieder in der Oper erlebte. Da stand eine sehr vornehme Dame vor mir an der Garderobe und wartete auf die Ausgabe ihres Mantels. „Suchen Sie nicht so weit hinten“, rief sie der Garderobiere zu, „ich hänge gleich hier vorn neben dem Rucksack!“

In diesem Zusammenhang fällt mir die junge Frau aus Saarbrücken ein, die ich während eines Spanienurlaubs am Hotelstrand kennen lernte. Auf die Frage, in welchem Stock sie wohne, antwortete sie: „Im fünften! Man kann’s von hier aus sehen. Ich bin die gelbe Markise!“ Wer in Adelskreisen verkehrt, der mag die eine oder andere Marquise aus Frankreich kennen, ich kenne immerhin eine Markise aus Saarbrücken.

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir uns selbst zur Sache erklären, setzen wir auch andere Menschen mit Objekten gleich. Im Gedränge auf einem Bahnsteig am Hamburger Bahnhof hörte ich jemanden den Schaffner fragen: „Sind Sie der Zug nach Lüneburg?“ Der Schaffner, der diese Frage offenbar schon oft gehört hatte, erwiderte ungerührt: „Ich bin nur der Zugbegleiter. Der Zug steht hinter mir.“

Bei Spiel und Sport ist die Identifizierung mit Objekten gang und gäbe. Ganz automatisch wird man zum Ball, zur Schachfigur oder zur Spielkarte. Unvergesslich wird mir jenes Rommeespiel im Kollegenkreis bleiben, bei dem sich eine Kollegin über die lästige Angewohnheit eines Mitspielers, seine Karten auf ihrem Stapel abzulegen, mit den Worten beschwerte: „Herr Molkentien, Sie liegen ja schon wieder auf mir drauf!“

Dass Menschen sich mit ihrer Arbeit identifizieren, ist nichts Besonderes. Dass sie sich mit ihrer Ware identifizieren, kommt auch immer wieder mal vor. Im Supermarkt zum Beispiel. „Dann hätte ich gern noch ein Stück von dem Brie dort“, sage ich zur Verkäuferin an der Fleisch- und Käsetheke. „Käse ist meine Kollegin nebenan!“, quäkt sie. Offenbar ist sie selbst nur der Aufschnitt. Soll mir Wurst sein.

Die Hindus glauben an Reinkarnation und daran, dass sie in einem früheren Leben einmal eine Fliege oder eine Maus waren. Der Deutsche geht da – zumindest in sprachlicher Hinsicht – noch einen Schritt weiter. Jeder lacht über den „Englisch-für-Anfänger“-Witz, in dem ein Deutscher in einem englischen Restaurant seine Order mit den Worten aufgibt: „I become a beefsteak!“

Dabei ist der Wunsch, ein Beefsteak zu werden, geradezu harmlos im Vergleich zu den verbalen Schweinereien, die in der deutschsprachigen Gastronomie an der Tagesordnung sind. Normalerweise gilt es als Beleidigung, jemanden ein Rindvieh oder eine Sau zu nennen. Nicht so im Restaurant. Wenn es ums Essen geht, haben wir nicht die geringsten Skrupel, jemanden zur Sau oder zum Rindvieh zu erklären – uns selbst inbegriffen. So wie jener Gast im Restaurant, der die Servierkraft mit knappen Worten darüber aufklärt, wer welches Gericht bekommt, indem er unmissverständlich klarstellt: „Meine Frau ist der Rollbraten. Ich bin das Schnitzel!“

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.


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5 Kommentare

  1. Sagen Sie nicht, was Sie wollen, sondern was Sie sind – Imbissdeutsch für Anfänger:
    https://www.youtube.com/watch?v=ECWoPwPK864

  2. Werner Ockels

    Inzwischen selbst Gastronom, erlaube ich mir immer wieder, im Restaurant auf die Frage des Kellners „Wer hatte das Schnitzel?“ zu antworten: „Ich hoffe, noch niemand!“.

    Viele Grüße
    Werner Ockels

  3. Joachim Guth

    Unvergesslich für mich in einem Restaurant in Österreich die Frage der Kellnerin, die eine Suppe servierte, „Wer ist der Herr mit dem Ochsenschwanz?“. Der betreffende Kollege hatte ganz harmlos eine Ochsenschwanzsuppe bestellt.

  4. Loriot lässt grüßen!

  5. Dieter Loebnitz

    Nach einer Mandeloperation lag ich (vor vielen Jahren) in einem 8-Bett-Zimmer im Krankenhaus. Mittags kam eine Schwester mit einem Tablett herein und fragte laut: „Wo liegt denn die Tonsille?“

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