Wer als Verkäufer arbeitet, der kennt sie zur Genüge: lästige Phrasen, seltsame Fragen und hilflose Floskeln. Dagegen hilft nur ein dickes Fell – oder man geht zum Gegenangriff über, so wie mein Buchhändler. Seine Methode ist zweifellos wirkungsvoll, aber nicht unbedingt zur Nachahmung zu empfehlen.
Der Buchhändler meines Vertrauens heißt Andreas und arbeitet schon seit vielen Jahren in der großen Buchhandlung am Rathausplatz, in der ich regelmäßig herumstöbere. Mit seinem Fachwissen beeindruckt er mich immer aufs Neue, ich bin mit der Zeit ein richtiger Fan von ihm geworden. Außerdem haben wir beide ein Faible für Wortspielereien. Andreas neigt allerdings manchmal zur Übertreibung, denn wann immer ihm eine Phrase über den Weg läuft, dann spießt er sie auf.
Ein Kunde steuert auf Andreas zu und fragt: „Entschuldigen Sie, wo finde ich wohl Frank Schätzing?“ Andreas macht ein nachdenkliches Gesicht und erwidert dann freundlich: „Herrn Schätzing finden Sie vermutlich in Köln, meines Wissens wohnt er dort. Aber wenn Sie Bücher von ihm suchen: Die finden Sie auch hier, und zwar dort drüben bei den Bestsellern!“ Der Kunde schaut verdutzt, murmelt ein „Ah ja, danke“ und stolpert in die ihm gewiesene Richtung davon.
Auf meine Frage, ob er alles immer derart wörtlich nehme, erwidert Andreas: „Selbstverständlich, das bin ich meinen Kunden schuldig. Wenn nicht einmal wir Verkäufer ihre Fragen ernst nähmen, wer dann?“ Sein maliziöses Lächeln verrät mir allerdings, dass er genau das Gegenteil meint: Wer solche Fragen ernst nimmt, der hat nicht alle Bücher im Regal. „Sie machen sich ja keine Vorstellung, mit welchen Fragen man als Buchhändler tagtäglich behelligt wird“, erklärt er mir. „Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Unser Geschäft öffnet um 9 Uhr, das steht für jedermann lesbar draußen an der Tür. Wenn dann um 9.15 Uhr ein Kunde durch die – wohlgemerkt: offene – Tür tritt und fragt: ,Haben Sie geöffnet?‘, dann kann es durchaus passieren, dass ich ihm antworte: ,Nein, mein Herr, wir lüften nur!‘“
„Fühlen sich die Kunden dann nicht auf den Arm genommen?“, frage ich. „Dieses Risiko muss ich in Kauf nehmen!“, entgegnet Andreas. „Dann sind Sie so eine Art Till Eulenspiegel“, stelle ich fest. „Der hat die Menschen auch immer allzu wörtlich genommen.“ – „Und er starb hochbetagt und von allen beweint“, fügte Andreas mit einem schelmischen Lächeln hinzu. „Nein, im Ernst: Die Fragen und Wünsche der Kunden können einen schon ganz schön närrisch machen. Da kommt die Eulenspiegelei ganz von selbst.“
„Was stört Sie denn besonders?“, will ich von Andreas wissen. „Nun, mich stören überflüssige Floskeln. Anfangs habe ich noch alles klaglos geschluckt, aber nach der tausendsten Wiederholung bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Es fängt schon bei der ersten Ansprache an. Wenn jemand zu mir sagt: ,Sagen Sie, Sie können mir wohl nicht helfen?‘, dann sage ich zu ihm: ,Nun ja, wenn Sie das ohnehin schon wissen …?‘ Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, ein echter Dauerbrenner: ,Können Sie nicht mal Ihren Computer befragen?‘ Der Kunde ist ja König, daher tu ich ihm den Gefallen, beuge mich zum Computer hinunter und stelle ihm laut und vernehmlich die Frage. Nach ein paar Sekunden des Schweigens blicke ich wieder zum Kunden auf, zucke die Schultern und sage: ,Sie hören es selbst – er antwortet nicht.‘
Auch immer wieder gern genommen ist die Bitte: ,Können Sie’s ein bisschen einpacken?‘ Ich erlaube mir dann nachzufragen: ,Was meinen Sie mit ,ein bisschen‘? Nur die Vorderseite oder nur die Rückseite?‘“ – „Seien Sie froh, dass Sie nicht in Franken wohnen“, werfe ich ein, „dort pflegt man den Verkäufer zu fragen: ‚Habt’s ihr auch aweng a düdn?’, was so viel heißt wie: ,Hätten Sie wohl auch ein Tütchen?‘“ – „Ach ja, so ein Tütchen ab und zu käme ganz gut“, seufzt Andreas mit einem verklärten Lächeln, „dann wären wir hier bei der Arbeit viel entspannter!“
Er saugt genüsslich die Lungen voll Luft, ehe er fortfährt: „Eine Kundin fragte mich unlängst: ‚Ich habe gelesen, dass der Frank Schätzing schon mehr als eine Million Bücher verkauft hat, stimmt das?‘ Da musste ich die gute Frau erst einmal darüber aufklären, was sein Beruf ist: ‚Herr Schätzing ist Autor und kein Buchhändler. Der verkauft keine Bücher, der schreibt sie. ICH verkaufe Bücher, aber bis man da auf eine Million kommt, das dauert, das kann ich Ihnen sagen!‘“ – „Danke, dass Sie unsere Berufsehre gerettet haben“, sage ich, „aber da stellt sich natürlich die Frage, wie wörtlich man wörtliche Rede nehmen darf. Manch einer könnte in Ihrem feinsinnigen Humor womöglich die gebotene Höflichkeit vermissen.“
„Höflichkeit ist ein gutes Stichwort“, pflichtet Andreas mir bei, „leider ist sie alles andere als selbstverständlich. Schlimmer noch als Kunden, die sich nicht ausdrücken können, sind Kunden, die sich nicht zu benehmen wissen. Wir Buchhändler sind zwar Dienstleister, aber keine Automaten. Sie können sich denken, wie euphorisch es mich stimmt, wenn man mich fragt: ,Sind Sie die Kasse?‘. Ich antworte darauf dann gern mit einer Gegenfrage: ,Habe ich geklingelt?‘ In der Regel hilft das.“ – „Tatsächlich?“ – „Es kommt natürlich auf den Tonfall an. Ich bin dabei ja nicht patzig. Manche Kunden empfinden es sogar als befreiend, wenn man sie einlädt, den staubigen Mantel des floskelhaften Sprechens abzulegen und über den Sinn und Nutzen von Phrasen nachzudenken. So wird aus Förmlichkeit Verbindlichkeit.“ – „Das verbindet Ihren Beruf mit meinem“, stelle ich fest. Dann deute ich auf das Buch in meiner Hand und sage: „Ich würde dieses Buch gerne kaufen.“ – „Dann tun Sie es doch einfach!“, entgegnet Andreas, „ich kann Sie nur dazu ermutigen!“ – „Also gut, schon überredet, ich mach’s“, sage ich lachend, „kann ich es dann auch gleich bei Ihnen bezahlen?“ Andreas mustert mich kritisch von oben bis unten und sagt trocken: „Na, das will ich doch wohl hoffen!“
(c) Bastian Sick 2005
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.
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