Wasser hat keine Balken, weiß der Volksmund. Manchmal aber hat Wasser Pünktchen — wenn aus einem Wasser mehrere Wässer werden. Aber Moment — kann es denn überhaupt mehr Wasser als eines geben?
Das Leben ist ein ständiger Lernprozess. Jeder Tag bringt neue Einsichten, und sei es nur die Erkenntnis, dass man sich über irgendein total wichtiges Problem noch nie Gedanken gemacht hat. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich mich zum ersten Mal mit der Frage konfrontiert sah, wie die Mehrzahl von „Wasser“ lautet: Heißt es Wasser oder Wässer? Was für eine Frage, dachte ich im ersten Moment, Wasser ist doch unzählbar, wieso sollte man davon die Mehrzahl bilden? Andererseits — wieso eigentlich nicht? Schließlich lassen sich selbst aus Luft noch Lüfte machen und aus der unaufhörlich verrinnenden Zeit unterschiedliche Zeiten gewinnen. Warum sollte es dann nicht auch vom Wasser eine Mehrzahl geben? Zumal es Wasser in allen möglichen Formen gibt: als Süßwasser, Salzwasser, Trinkwasser, Kochwasser, Tafelwasser, Leitungswasser, Abwasser, Spülwasser, Badewasser, Waschwasser, Fruchtwasser und Zuckerwasser.
Spätestens beim Preisvergleich im Getränkemarkt drängt sich die Frage nach dem Wasser-Plural auf: Da gibt es nämlich billigere und teurere Mineralwasser … oder sind es Mineralwässer? Wird das Wasser-„a“ im Plural umgelautet? Verschiedene Ableitungen des Wortes sprechen dafür: Gewässer, Bewässerung, entwässern, verwässert, wässrig … Abgeleitetes Wasser bekommt also oft ein „ä“ — aber gilt das auch für die Mehrzahl?
Schaut man sich klangähnliche Wörter an, so findet man den „a“-Klang im Plural unverändert: Gefängniswärter sind keine Aufpässer, sondern Aufpasser, und in einem Schlossereibetrieb arbeiten Schlosser und keine Schlösser. Demnach werden aus Wasser auch keine Wässer. Man kann sprichwörtlich „mit allen Wassern gewaschen sein“ — aber kaum „mit allen Wässern“.
Das Umlauten ist eine deutsche Spezialität, deren Gesetze in der Praxis unterschiedlich ausgelegt werden. Nicht selten kommt es vor, dass uns jemand ein „ä“ für ein „a“ vormachen will. Manch einer bastelt aus Strohhalmen „Strohhälme“ und zeigt im Internet Bilder von seinen niedlichen „Hünden“. Und der Streit darüber, ob der Plural von „Wagen“ nun „Wagen“ oder „Wägen“ lautet, wird wohl nie enden. Darüber sind schon viele Studienratskragen geplatzt — wenn es nicht gar Krägen waren.
Manchmal aber setzen sich Formen durch, die es streng genommen nicht geben dürfte. Bisweilen schafft die Ausnahme nämlich größere Klarheit als die Regel. Daher gibt es auch die Pluralform „Wässer“ — und zwar dann, wenn zwischen mehren Wassersorten unterschieden wird. Laut Duden ist es zulässig, in Flüsse und Meere sowohl giftige Abwasser als auch giftige Abwässer einzuleiten. Und daher darf man genauso zwischen verschiedenen Mineralwässern unterscheiden wie zwischen Mineralwassern.
Folglich ist es nicht falsch, wenn über der Klosettschüssel auf der Zugtoilette der Hinweis steht: „Nur für WC-Abwässer und Toilettenpapier!“ Allerdings kann man sich fragen, warum die Bahn das Wort Abwasser für mehrzahlfähig hält, das Wort Papier hingegen nicht. Wenn schon Abwässer, warum dann nicht auch Toilettenpapiere?
Beim Mineralwasser bereitet übrigens nicht nur die Frage des Plurals Probleme, sondern auch die Frage der Zusammensetzung. In der Theaterpause bestelle ich am Erfrischungsstand im Foyer ein Wasser. „Stilles Wasser oder Mineralwasser?“, fragt die Bedienung, ein junger Mann mit feschem Käppi und modischem Bärtchen. Ich blicke etwas irritiert und sage: „Ein stilles Mineralwasser, bitte!“ Nun ist es an der Bedienung, irritiert zu blicken: „Was denn jetzt — wollen Sie ein Mineralwasser oder ein stilles Wasser?“ Mein Versuch, den jungen Mann darüber aufzuklären, dass auch stille Wasser mineralhaltig seien, dass es also nicht sehr sinnvoll sei, zwischen stillem Wasser und Mineralwasser zu unterscheiden, zeitigt bedauerlicherweise keinen Lernerfolg. Im Gegenteil, er scheint mich plötzlich als eine Bedrohung zu empfinden, als jemanden, der sein Sprudelverständnis ins Wanken bringen will. „Geben Sie mir ein Wasser ohne Kohlensäure, bitte“, sage ich — und mache es dadurch nur noch schlimmer. Das Wort „Kohlensäure“ ist nämlich längst nicht mehr jedem bekannt. Die Jüngeren pflegen heute vielmehr zwischen Wasser „mit Gas“ und „ohne Gas“ zu unterscheiden. Das haben sie von den Spaniern übernommen, bei denen man im Lokal „agua mineral con gas“ oder „sin gas“ bestellt. Wenigstens kein Anglizismus, sondern mal ein Hispanismus. Der junge Mann am Getränkestand denkt offenbar, Kohlensäure sei ein Mineral, jedenfalls reicht er mir kurzerhand ein Glas Leitungswasser.
Immerhin noch Wasser. Ein Verkaufsschild vor einem Supermarkt im niedersächsischen Hämelerwald preist „Wasser ohne H2O“ an. Chemie war ja nie meine Stärke, aber diese Produktbeschreibung kam sogar mir nicht ganz wasserdicht vor. (Die chemische Formel für Kohlensäure lautet H2CO3.)
Ich trinke das Glas in einem Zug leer und muss aufstoßen. „Nanu“, wundert sich meine Begleitung, „hattest du nicht ein Wasser ohne Sprudel bestellt?“ — „Du weißt doch“, erwidere ich, „stille Wässer sind tief!“
(c) Bastian Sick 2007
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.
Mehr zu ungewöhnlichen Pluralformen:
In dem Zusammenhang vielleicht erwähnenswert: Der Plural von „Lager“ ist normalerweise „Lager“, nur in der Bedeutung als Warenlager bildet der Kaufmann den Plural mit Umlaut („Läger“), während es umgangssprachlich beim „Lager“ bleibt.
Gruß
Markus Großmann
Ich habe bereits oft erlebt, dass ich stilles Wasser bestellt habe und dann eine Flasche bekam, auf deren Etikett „stilles Wasser“ mit dem kleinen Untertitel „mit Kohlensäure versetzt“ stand. Bei so etwas sollte man sich ernsthaft Sorgen machen.
Ich habe mal als Taxifahrer gearbeitet.
Da hat der Juniorchef am Telefon immer gesagt: „Alle Wagens sind unterwegs,“
Die Bezeichnung mit bzw. ohne Gas kenne ich aus Frankreich.
Mineralwasser muss seit über 20 Jahren nicht mehr besonders viele Mineralien enthalten. Auch die besondere Reinheit haben inzwischen einige Gerüchte „kassiert“; trotzdem wäre der Umkehrschluss falsch, dass Leitungswasser genauso gut wie Mineralwasser wäre. Sorgfältig produziertes Tafelwasser kann hochwertiger sein als Mineralwasser.
Folgender Beitrag ist evtl. zu dem Thema interessant: http://fzarchiv.sachon.de/Zeitschriftenarchiv/Getraenke-Fachzeitschriften/Getraenkeindustrie/2006/01_06/GI_01-06_25-27_Hat_Wasser_ein_Gedaechtnis.pdf#title
Gas (Gaz) ist sehr wohl ein Anglizismus … ich denke, die Kids von heute haben es eher aus dem englischsprachigen Facebook, also aus Spain …
Lieber Herr Sick,
da haben Sie sich etwas willkürlich nur die Worte (Wörter!) herausgesucht, deren Klänge(!) nicht umgelautet werden. Bei mehreren Mechanikern bleibt es bei den Schlossern, aber was ist mit den herrschaftlichen Gebäuden, die oft an Hängen gebaut und manchmal durch unterirdische Gänge und Kanäle verbunden sind. Davor befinden sich oft auch Wassergräben und davor dann die Schlossgärten.
Auf den Wachttürmen oder Wachtürmen, die man auch Warten nennen kann, stehen Männer, Wächter oder Wärter genannt, die nach langen Nächten oft nicht mehr ganz wach sind, wenn sie in den Tälern und Fluren auf mit falschen Pässen eingereiste Fürstenhasser oder des Fürsten Häscher einen Blick zu erhaschen hoffen.
Aber Sie haben schon Recht, dass auf ~ass~ die Umlautung eher selten ist, da will ich nun keine neuen Fässer aufmachen.
Mit Gruß oder Grüßen
Ihr HB
Sehr geehrter Sick,
auch bei dem Wunsch nach den Inhaltsstoffen der verschiedenen Wässer wird leider immer wieder ein Fehler produziert. Die (meisten) Leute, die ein Wasser ohne Kohlensäure bestellen, wollen eigentlich – richtigerweise – ein Wasser ohne CO2 (Kohlendioxyd), also eben ohne Gas. Denn dieses verursacht das Aufstoßen und nicht die Kohlensäure, die Sie ja korrekt mit der chemischen Formel H2CO3 benannt haben. Nur um diese Tatsache klarzustellen.
MfG. U.Kern
Immerhin enthält das Mineralwasser auf dem Foto kein Dihydrogenmonoxyd (auch Hydritsäure genannt), das bei Inhalation tödlich wirken kann.
Hallo, Herr Sick!
Mein erster Gedanke: Vielleicht haben sich die „Wässer“ über Verniedlichungen in die Sprache eingeschlichen, etwa:
– Wässerchen -> Synonym für Wodka; „kein Wässerchen trüben können“
– Duftwässerchen -> Synonym für Parfüm
Liebe Grüße
Stefan Bringewatt
Hallo, Herr Sick!
Mein erster Gedanke: Vielleicht haben sich die „Wässer“ über Verniedlichungen in die Sprache eingeschlichen, etwa:
– Wässerchen -> Synonym für Wodka; „kein Wässerchen trüben können“
– Duftwässerchen -> Synonym für Parfüm
Liebe Grüße
Stefan Bringewatt
Hallo Herr Sick,
ich erkläre mir den Hinweis auf Abwässer auf Toiletten der Deutschen Bahn so, dass sich hier tatsächlich bei einer relevanten Anzahl von „geschäftlichen Erledigungen“ das eine Wasser mit einem anderen Wasser, nämlich dem der Spülung, vereinigt – es somit verschiedene Wässer sind.
Die wenigsten Kunden werden jedoch ihr eigenes Toilettenpapier mitbringen, sodass man hier nicht von Papieren unterschiedlicher Provenienz ausgehen muss und diesen Sonderfall bei der Beschriftung der Hinweisschilder unter den Tisch (oder die Schüssel) fallen lässt.
Mit augenzwinkernden Grüßen,
Michael K.
Guten Tag Herr Sick
Erst mal einen ganz grossen Dank für ihre lehrreichen und unterhaltsamen Beiträge. Ihre Quizfragen bringen mich trotzdem regelmässig zum Schwitzen.
Betreffend Wasser kommt mir der Gedanke, dass in der Schweiz sogar der Begriff „Wässerwasser“ existiert.
Im Kanton Wallis herrschte früher im Sommer in den Tälern zum Teil grosse Wasserknappheit. Um dieser abzuhelfen, wurden die „Suonen“, die Wasserkanäle, in teils lebensgefährlicher Art und Weise zur Ableitung des Gletscherwassers zu den landwirtschaftlich genutzten Gegenden erstellt. Und in diesen Suonen fliesst eben das „Wässerwasser“, welches sich wegen seines hohen Sand- und Mineralienanteils nur zum Bewässern, nicht aber als Trinkwasser eignet (garantiert reich an H2O).
Machen sie weiter so, ich weiss ihre Kolumnen und auch Bücher sehr zu schätzen.
Meine gesetzten Anführungszeichen werden nicht richtig gewählt sein. Ich weiss leider nicht, wie ich meinen Klapprechner dazu bringen kann, diese gemäss ihren Angaben darzustellen.
Freundliche Grüsse
Hr. Beat Feller
CH-3771 Blankenburg
(in Deutschland kennt man meistens nur den weiblichen Vornamen Beate 🙂