Nichts ist so rätselhaft wie die Zeit. Darum passt sie so gut zu unserer Sprache, denn auch die steckt voller Rätsel: Wie nah ist zeitnah? Wer putzt die Zeitfenster? Wie lang dauert ein Sekündchen? Ein paar Fragen über zeitlose Probleme mit kleinen Wörtern der Zeit.
Das Mysterium der Zeit hat mich beschäftigt, seit ich ein kleiner Junge war. Spätestens, seit ich „Peter Pan“ gesehen hatte, wo ein Krokodil eine Rolle spielt, das einen Wecker verschluckt hatte und infolgedessen ständig tickte. Seitdem tickte es auch bei mir. Die Zeit faszinierte mich, weil sie sich nicht beherrschen ließ. Nie verging sie so, wie man es wollte. Beim Spielen viel zu schnell, und bis Weihnachten viel zu langsam.
In der Schule wollte man mir weismachen, Zeit sei eine exakt messbare Komponente unseres Universums; doch ich wusste es besser: Nichts ist so relativ wie die Zeit. Für unser Leben spielen Nanosekunden und Gigajahre keine Rolle, da geht es allein um gefühlte Zeit: 20 objektive Minuten beim Zahnarzt sind in gefühlter Zeit mindestens zwei Stunden. Dass eine Minute längst nicht immer aus 60 Sekunden besteht, weiß jeder, der schon mal die Ansage gehört hat: „Gib mir eine Minute, Schatz! Ich zieh mir nur eben ein anderes Kleid an!“ Oder man klingelt unten an der Tür, und eine Stimme flötet vom Balkon herab: „Sekündchen, ich komme!“ Während dieses „Sekündchens“ kann man meistens problemlos noch ein bis zwei Telefonate führen.
Wie schwer es uns fällt, die Zeit zu bestimmen, zeigt sich an Wörtern wie „sofort“, „gleich“ oder „später“. Ein guter Bekannter klärte mich einmal über die in seiner Abteilung übliche Unterscheidung auf. „Das erledige ich sofort“ bedeute so viel wie „im Anschluss an meine Kaffeepause“, während „das erledige ich gleich“ so viel wie „nachher, am späteren Nachmittag, wenn alle meine Ebay-Auktionen abgelaufen sind“ bedeute. Die Aussage „das erledige ich später“ stelle klar, dass mit einer Erledigung keinesfalls mehr am selben Tag zu rechnen sei.
In einigen Kulturen gibt es angeblich gar kein Wort für Zeit. Im Deutschen gibt es dafür umso mehr Wörter mit „Zeit“, man denke nur an Zusammensetzungen wie Zeitalter, Zeitbombe, Zeitdruck, Zeitlupe, Zeitpunkt, Zeitreise und Zeitzeuge. Und nicht zu vergessen: Zeitfenster. Das ist aus unserer Sprache heute nicht mehr wegzudenken. Früher betrat man einen Zeitraum oder hängte einen Zeitrahmen auf, heute öffnet man ein Zeitfenster. Die Moden wandeln sich eben – das ist der Lauf der Zeit. Mir soll’s recht sein – solange ich dieses Fenster nicht putzen muss …
Ebenfalls zurzeit sehr in Mode ist der Superlativ-Nachsatz „aller Zeiten“: Da ist vom „teuersten Film aller Zeiten“ die Rede, von der „meistverkauften Platte aller Zeiten“, vom „kultigsten Auto aller Zeiten“ und vom „jüngsten Formel-1-Sieger aller Zeiten“. Ich halte dies für den größten Unfug aller Zeiten. Denn wer wirklich alle Zeiten meint, der kann doch dabei die Zukunft nicht ausschließen, und wer könnte sicher sagen, dass es morgen nicht einen noch teureren Film und einen noch jüngeren Formel-1-Sieger geben wird?
Zugegeben: „Der teuerste Film aller bisherigen Zeiten“ klingt nicht so beeindruckend. Aber in Zeiten allzu schneller Ausreizung von Rekordvokabeln kann es nicht schaden, sich beizeiten etwas Neues einfallen zu lassen. Den „aller Zeiten“-Nachsatz verwendete man übrigens schon zu früheren Zeiten: Adolf Hitler wurde spöttisch auch als Gröfaz bezeichnet, als „größter Feldherr aller Zeiten“. Allein aus diesem Grunde sollte man mit dem „größten Superlativ aller Zeiten“ weniger leichtfertig und verschwenderisch umgehen.
Politiker lieben das Wort „zeitnah“, weil es gebildet klingt, auch wenn es in Wahrheit genauso unpräzise ist wie „bald“ oder „demnächst“. Noch im letzten Jahrhundert führte „zeitnah“ ein eher unscheinbares Dasein im Wirtschafts- und Bankenjargon. Der Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen verhalf ihm im Jahre 2001 zum gesellschaftlichen Durchbruch. Die Frage nach dem Zeitpunkt des Rücktritts des CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky beantwortete Diepgen mit den Worten: „Die Entscheidung wird zeitnah folgen.“
Seitdem hat die Verwendung des Wortes „zeitnah“ bei Politikern und in den Medien sprunghaft zugenommen. Immer wieder hört und liest man von „zeitnahen Lösungen“ und „zeitnahen Umsetzungen“, und die Bahn verspricht „zeitnahe Auskünfte über Verspätungen und Anschlussmöglichkeiten“. Ob Politiker ihren ungeduldig wartenden Kindern wohl auch erklären, Weihnachten sei zeitnah? Dabei ist die Definition von „zeitnah“ offenbar sehr dehnbar; sie reicht von „jüngst“ bis „bald“. Gerade im Feuilleton wird „zeitnah“ gern anstelle von „aktuell“ gebraucht. Da ist von „zeitnahen Themen“ die Rede oder von „zeitnaher Literatur“. Damit sind nicht die Themen und Bücher der nahen Zukunft gemeint, sondern die der Gegenwart.
Manchen ist dieses Wort schon so lieb geworden, dass sie ihm eigene Regeln andichten, zum Beispiel bei der Steigerung: „Der zeitnaheste Termin, den ich Ihnen anbieten kann, ist in vier Wochen“, erfuhr ich von der Sprechstundenhilfe meines Zahnarztes. Warum nicht einfach „der nächste“ oder „der früheste“?
Ein gravierendes Missverständnis besteht auch hinsichtlich des unscheinbaren Wortes „zunächst“. Wie oft liest man in Zeitungsartikeln „Über die Brandursache war zunächst nichts bekannt“ oder „Vom Täter fehlte zunächst jede Spur“. Ich wundere mich dann immer darüber, dass der Artikel die Auflösung schuldig bleibt. Denn wenn ich ein „zunächst“ lese, erwarte ich ein „dann“. So wie hier zum Beispiel: „Zunächst sagte keiner ein Wort, dann fing sie leise an zu sprechen.“ Entsprechend also: „Vom Täter fehlte zunächst jede Spur, nach intensiver Suche fand ihn die Polizei dann im Nebenzimmer.“
Das Wort „zunächst“ ist gleichbedeutend mit „vorerst“, „fürs Erste“. Wenn man schreiben will, dass irgendetwas noch nicht bekannt ist, dann ist „bislang“ oder „bisher“ die richtige Wahl: „Über die Ursache ist bislang nichts bekannt.“ Sprache und Zeit haben eines gemein: Sie sind schwer zu begreifen, und sie geben uns immer wieder neue Rätsel auf.
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.
Hallo Herr Sick,
ich bin 65 Jahre alt und mein bevorzugter Radiosender ist SWR1. (bilde mir ein, dort noch zur Zielgruppe zu gehören)
Was mir jedoch ständig nervt ist der Werbespruch: „die größten Hits aller Zeiten“.
Ich fühle mich dazu gedrängt, denen zu scheiben, dass sie mit dem größten Unfug seit es SWR1 gibt, endlich Schluss zu machen. (Ähm, habe ich hier alle Kommas richtig gesetzt?)
Und würde mich dazu auch auf Bastian Sick berufen.
Nun vermute ich, dass da schon Andere diesen Einfall hatten.
Gab es dazu diesbezüglich schon mal Kontakt mit dem SWR?
es grüßt Sie herzlich
Alois Ehret