Über die „neuen“ Regeln der Rechtschreibreform (die mittlerweile auch schon 20 Jahre alt sind) kursieren zahlreiche Gerüchte. Eines davon betrifft die Zeichensetzung. Es besagt, dass vor „und“ kein Komma mehr stehen dürfe. Nie mehr. Unter keinen Umständen. Doch das ist Unsinn. Vor „und“ kann sehr wohl ein Komma stehen. In bestimmten Fällen ist es sogar zwingend erforderlich.
Gerade saß ich an den Korrekturen meines nächsten Buches („Der Dativ … Folge 4-6 in einem Band“), das im November erscheinen soll, und runzelte die Stirn über die Kommas, die der gestrenge Korrektor gestrichen hatte, da bekam ich eine E-Mail von einem sehr freundlichen Leser, der sich mir als jemand vorstellte, der „beruflich deutschsprachige Untertitel in englischsprachige Videos einfügen muss“. Eine wichtige Tätigkeit, dachte ich sogleich, auch wenn es sich in seiner Beschreibung so anhörte, als sei es eine Strafarbeit, zu der er zeitlebens verdonnert worden sei.
Er hatte eine Frage zur Zeichensetzung. Und zwar wollte er von mir wissen, ob die Behauptung zutreffend sei, dass seit der Rechtschreibreform vor dem Bindewort „und“ grundsätzlich kein Komma mehr stehen dürfe. Er setze es nämlich nach wie vor immer dann, wenn eine deutliche Sprechpause gemacht werde. Er nannte keine Beispiele, doch ich stellte mir vor, dass es um Dialogsätze wie diese ging:
„Du hast nichts mehr zu verlieren, und außerdem schuldest du mir noch einen Gefallen.“
„So etwas wagst du von mir zu verlangen, und das auch noch in so einem Ton?“
Er sei immer fest davon überzeugt gewesen, schrieb der Leser, dass man solche Sprechpausen im geschriebenen Text mittels eines Kommas abbilden könne. Inzwischen aber sei er verunsichert, weil so oft behauptet würde, dass ein Komma vor „und“ kategorisch falsch sei.
In diesem Punkt konnte ich ihn jedoch beruhigen. Denn tatsächlich ist es ein Irrglauben, dass vor „und“ grundsätzlich kein Komma stehen dürfe. Es gibt sogar Fälle, in denen ein Komma unerlässlich ist. In der Rechtschreibreform (1996 – 2006) wurde lediglich festgelegt, dass das Komma zwischen vollständigen Hauptsätzen nicht mehr zwingend ist, wenn sie durch „und“ verbunden sind.
1. Zwischen mit „und“ verbundenen Hauptsätzen
Werden zwei Hauptsätze mit „und“ zu einem größeren Satzgefüge verbunden, so setzte man früher (vor 1996) stets ein Komma:
Der Falke kreist am Himmelszelt, und der Hase schnellt über das Feld.
Meine Mutter wurde in Hamburg geboren, und mein Vater stammt aus Bozen.
Seit der Reform ist das Komma in diesen Fällen „fakultativ“, das heißt man kann es setzen, muss es aber nicht:
Der Falke kreist am Himmelszelt und der Hase schnellt über das Feld.
Meine Mutter wurde in Hamburg geboren und mein Vater stammt aus Bozen.
Mit dieser „Kann“-Bestimmung halte ich es so: Wenn es sich um sehr kurze Hauptsätze handelt, verzichte ich aufs Komma.
Ich bin ich und du bist du.
Daniel hat einen Hund und Lara hat ein Pony.
Wo hört das Meer auf und wo fängt der Himmel an?
Seid bitte so nett und räumt nachher alles wieder an seinen Platz.
Wenn die Hauptsätze aber länger sind, kann ein Komma sinnvoll sein. Es verhindert, dass man in einem Rutsch weiterliest und gar nicht wahrnimmt, dass man es plötzlich mit einem anderen Subjekt und Prädikat zu tun hat:
Es roch nach Salz und fauligem Fisch und Tonnen voller Abfall lagen umgestürzt im Sand.
Ohne Komma könnte man die „Tonnen voller Abfall“ als drittes Glied einer Aufzählung missverstehen und sich beim Weiterlesen verhaken. Ein solches Verhaken kann durch ein Komma verhindert werden, weil es rechtzeitig einen Einschnitt markiert.
Es roch nach Salz und fauligem Fisch, und Tonnen voller Abfall lagen umgestürzt im Sand.
Ebenso hier:
Der Schulleiter schimpfte auf die Schüler und die Eltern blickten betroffen zu Boden.
Ohne Komma könnte der falsche Eindruck entstehen, der Schulleiter habe gleichermaßen auf die Schüler und auf die Eltern geschimpft. Und falsche Eindrücke will man beim Schreiben doch möglichst vermeiden, darum tut man gut daran, hier vor dem „und“ ein Komma zu setzen.
2. Hinter eingeschobenen Nebensätzen und Appositionen
Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fälle, in denen ein Komma vor „und“ nicht nur ratsam, sondern aus grammatischen Gründen sogar notwendig ist. Und zwar immer dann, wenn in einen Hauptsatz ein Nebensatz oder ein Einschub (Apposition) eingeschlossen ist. Dazu drei Beispiele:
1.) Er kannte sich mit Western, seinem liebsten Genre, und mit Kriminalfilmen sehr gut aus.
2.) Ich weiß, dass ich nichts weiß, und das ist eine ganze Menge.
3.) Wir bestätigen Ihre Reservierung, für die wir Ihnen sehr danken, und freuen uns auf Ihr Kommen.
Im ersten Beispiel handelt es sich um einen Einschub, in den beiden anderen um einen eingeschobenen Nebensatz. Sowohl Einschub als auch Nebensatz werden nicht nur mit einem Komma eingeleitet, sondern auch mit einem Komma beendet. Im Duden heißt es dazu: „Das schließende Komma eines vorangehenden Einschubs oder Nebensatzes bleibt generell erhalten.“ Das heißt: Das zweite Komma muss gesetzt werden, auch wenn der Hauptsatz anschließend mit einem „und“ weitergeht.
Diese Erkenntnis ist allerdings nicht sehr weit verbreitet. Viele glauben, man brauche hier vor dem „und“ kein Komma zu setzen – und befinden sich damit im Irrtum. Ohne Komma verläuft der Nebensatz im Hauptsatz wie gelbe Flüssigkeit in blauer – was bekanntlich Grün ergibt und somit alles andere als klar wie Kloßbrühe ist.
3. Vor „und“ in Aufzählungen
Tatsächlich fehl am Platz ist das Komma vor „und“ nur in Aufzählungen:
Auf dem Bild sieht man Harald, Uwe, Friedrich und Max.
Sie wünschte sich eine Teekanne und dazu passende Tassen und Kuchenteller, Gabeln und Löffel.
Im Englischen ist es zwar üblich, vor dem letzten Glied einer Aufzählung ein Komma zu setzen:
I like classical music, jazz, and pop.
Im Deutschen jedoch nicht:
Ich mag Klassik, Jazz und Pop.
Und dennoch gibt es Situationen, in denen selbst bei Aufzählungen ein Komma vor „und“ zu rechtfertigen ist. Und zwar immer dann, wenn der mit „und“ eingeleitete Teil aus rhetorischen oder dramaturgischen Gründen vom Rest der Aufzählung abgesetzt wird. Das heißt: wenn vor dem „und“ eine Pause zu hören (oder zu lesen) ist.
4. Vor Sprech- und Gedankenpausen
Vor „und“ darf immer dann ein Komma stehen, wenn es eine Sprech- oder Gedankenpause markiert, so wie in diesen Beispielen:
Sie machte sich nichts aus Spinat und Brokkoli, und noch weniger aus Sellerie.
Ich kann weiter hüpfen als du, und das auch noch auf einem Bein.
Statt des Kommas könnte man hier auch jeweils einen Gedankenstrich setzen:
Sie machte sich nichts aus Spinat und Brokkoli – und noch weniger aus Sellerie.
Ich kann weiter hüpfen als du – und das auch noch auf einem Bein.
Wann immer ein Komma die Funktion eines Gedankenstrichs übernimmt, kann es mit Fug und Recht vor „und“ stehen.
Das folgende Beispiel dürfte auch die letzten Zweifler überzeugen. Vor Kurzem schrieb ich eine Nachricht an meine Freundin Tina und schloss mit den Worten: „Küsschen, und Grüße an deinen Mann“. Hätte ich auf das Komma verzichtet, könnte Tina womöglich denken, ich wollte ihrem Mann nicht nur Grüße, sondern auch Küsschen zukommen lassen. Prompt erschienen unsere Freundschaft und ihre Ehe in einem völlig anderen Licht, und alles nur wegen eines fehlenden Kommas.
Fazit: Ein Komma vor „und“ kann oft sinnvoll sein, manchmal ist es sogar notwendig, im Zweifelsfall kann es vor Missverständnissen bewahren und Beziehungen retten.
Weiteres zur Zeichensetzung:
Das gefühlte Komma
Mit und ohne Komma gedroht
Und ich schreibe, trotz aller Erklärungen, weiterhin immer ein Komma. Allerdings nehme ich für einen Nebensatz oder einen eingeschobenen Gedanken gerne einen Bindestrich. Falls das falsch sein sollte, werde ich es aber wahrscheinlich auch weiterhin so schreiben. Die ‚Macht der Gewohnheit‘ eben!
Ein Malerlehrling soll ein Wirsthausschild beschriften: „BIER UND WEIN“.
Der Meister mahnt ihn: „Lass zwischen BIER und UND und UND und WEIN genügend Abstand“. Oder besser „Lass zwischen BIER und UND, und UND und WEIN genügend Abstand“?
Sie schreiben „Im Englischen ist es zwar üblich, vor dem letzten Glied einer Aufzählung ein Komma zu setzen:
I like classical music, jazz, and pop.“
Das gilt aber nur für amerikanisches Englisch! Im britischen Englisch ist es genau so wie im Deutschen!