Donnerstag, 18. April 2024

Der mit dem Maul wirft

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Sind Windhunde schnell wie der Wind? Reifen Schattenmorellen am besten im Schatten? Wurden am Rosenmontag einst Rosen unters Volk geworfen? Die Antwort lautet in allen Fällen: nein! Denn keines der Wörter hat mit dem zu tun, wonach es aussieht.

Ich war gerade sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal von einer äußerst mysteriösen Krankheit hörte, die offenbar sehr gefährlich war. Ich kannte bis dahin nur Windpocken, Masern und Scharlach — nichts, was sich nicht mit Bettruhe, Gummibären und Comicheften kurieren ließ. Aber nun war ein Mitschüler an Hepatitis erkrankt. Die Schulleitung war sehr besorgt, und aus Angst vor einer Ansteckung wurden wir alle nach Hause geschickt. Hepatitis sagte damals allerdings nur der Arzt, die Leute bei uns im Dorf sprachen von Gelbsucht.

Ich verstand etwas anderes, „Gelbsucht“ ergab für mich nämlich keinen Sinn, denn wie sollte man nach einer Farbe süchtig werden können? Meiner Mutter erklärte ich, dass ein Kind in meiner Klasse die Geldsucht bekommen habe. Ich machte mir viele Gedanken deswegen. Konnte man an Geldsucht sterben? Oder darüber den Verstand verlieren? Hatte ich mich womöglich schon angesteckt? Immerhin hatte ich in letzter Zeit doch häufiger daran gedacht, meinen Vater um eine Taschengelderhöhung zu bitten! Eine große Angst erfasste mich. Ich nahm mein Sparschwein, gab es meiner Mutter und bat sie, es bis auf weiteres vor mir zu verstecken. Als ich schließlich erfuhr, dass die Krankheit gar nichts mit Geld zu tun habe, war ich sehr erleichtert.

Derlei Missverständnisse kennt wohl ein jeder von uns. Meine Freundin Sibylle glaubte als Kind an Knecht Huprecht, an Renntiere und an Eisbärsalat. „Wat man nich‘ selber weiß, dat muss man sich erklären“, wusste der großartige Jürgen von Manger zu singen, und so haben sich die Menschen immer schon ihren eigenen Reim auf Dinge gemacht, die sie nicht verstanden.

Das ist ein ganz natürlicher Vorgang, dem unsere Wörterbücher einige schöne, klangvolle Einträge zu verdanken haben. Im Laufe der Sprachgeschichte ist so manche Wortbedeutung in Vergessenheit geraten, und wann immer man sich unter einem bestimmten Wort nichts mehr vorstellen konnte, hat man stattdessen ein anderes gewählt, das ähnlich klang. Nicht selten erfuhr das Wort dadurch eine neue Deutung, die mit dem ursprünglichen Sinn nicht viel zu tun haben musste. So entstanden Wörter wie Affenschande, Windhund und Rosenmontag.

Letzter hat seinen Namen nämlich nicht etwa von Rosen, sondern vom Rasen. „Rasender Montag“ sagte man einst, weil das feierlustige Volk schon zu früheren Zeiten am Rosenmontag außer Rand und Band geriet. Der Windhund mag vielen zwar „schnell wie der Wind“ erscheinen, doch verdankt er seinen Namen dem slawischen Volk der Wenden: Windhund bedeutet „wendischer Hund“. Und auch die Affenschande ist nicht das, wonach sie aussieht, jedenfalls hat sie nichts mit Affen zu tun. Der niederdeutsche Ausdruck „aapen schann“ bedeutete nichts anderes als „offene (öffentliche) Schande“.

Um herauszufinden, was der Name „Maulwurf“ ursprünglich bedeutete, muss man ziemlich tief graben. Im frühen Mittelalter hieß der Maulwurf noch „muwerf“, das bedeutete „Haufenwerfer“. Der erste Teil des Wortes ging auf das angelsächsische Wort muga oder muha für Haufen zurück. Ein paar Jahrhunderte später war aus dem „muwerf“ ein „moltwerf“ geworden; denn „molt“ war im Mittelhochdeutschen das Wort für Erde und Staub. Dieses wurde über „mult“ zu „mul“, bis es schließlich gar nicht mehr verwendet wurde, sodass man sich die Bedeutung des Wortes „mulwurf“ nicht mehr erklären konnte und „mul“ durch das ähnlich klingende „Maul“ ersetzte. Und so wurde aus dem Erdwerfer schließlich der, der mit dem Maul wirft.

In der Sprachwissenschaft werden solche Neudeutungen von Wörtern „Volksetymologie“ genannt. Anders ausgedrückt: Wir basteln uns eine neue Herkunftserklärung und passen, wenn nötig, die Schreibweise des Wortes ein wenig an. So etwas geschah vor allem bei der Übernahme von Fremdwörtern. So machten die Deutschen aus dem indianischen Wort hamáka die Hängematte. Und jene aus Frankreich stammende Sauerkirsche, nach ihrem Herkunftsort „Château de Moreille“ genannt, wurde im Deutschen zur Schattenmorelle. Die Annahme, diese Kirschensorte gedeihe besonders im Schatten, trifft folglich nicht zu.

Ein weiteres schönes Beispiel ist der Tolpatsch. Er geht zurück auf das ungarische Wort  talpas, eine scherzhafte Bezeichnung für einen Fußsoldaten, abgeleitet vom ungarischen Wort talp für „Fußsohle“. Für die Österreicher, die den Begriff von den Ungarn übernahmen, war ein Tolpatsch daher zunächst ein Soldat, der eine unverständliche Sprache sprach. Später wurde diese Bedeutung zu einem ungeschickten Menschen erweitert. Im Zuge der Rechtschreibreform erfuhr der ungarische Tolpatsch dann eine weitere Anpassung ans Deutsche, denn nunmehr schreibt man ihn — in Anlehnung an Worte wie Tollhaus und Tollwut — mit Doppel-l: Tollpatsch.

Andere Völker machten es übrigens genauso. Der englische Notruf „Mayday“ ist eine volksetymologische Ableitung des französischen „(Venez) m’aider“, auf Deutsch „Helft mir!“ oder „Rettet mich!“. Auch das Wort Tennis ist eine klangliche Übernahme aus dem Französischen. Es kommt von dem Ausruf „Tenez!“ („Da!“, „Sehen Sie!“), mit dem die Spieler ihren Aufschlag ankündigten. Ursprünglich wurde Tennis nicht mit Schlägern, sondern mit bloßen Händen gespielt. Der alte französische Name des Spieles lautet „Jeu de Paume“, wörtlich übersetzt: Handflächenspiel.

Das kuriose Wort „Fisimatenten“ wird gern als Übernahme aus dem Französischen erklärt. Es soll sich um die Verballhornung von „Visitez ma tente“ handeln, einer Einladung, mit der die napoleonischen Besatzungssoldaten angeblich deutsche Frauen in ihr Zelt zu locken versuchten. Doch eine andere Erklärung gilt als wahrscheinlicher, derzufolge hin­ter den Fisimatenten keine französische Masche steckt, son­dern eine amtliche Bescheinigung: visae­ patentes war der lateinische Ausdruck für Offizierspatente. So gab es bereits im 16. Jahrhundert, lange vor der napoleonischen Zeit, das eingedeutschte Wort „visepatentes“, das zum Inbegriff für lästige Umstände wurde, zumal das Ausstellen eines Offi­zierspatentes viel Zeit in Anspruch nahm. Daneben exis­tierte auch noch das mittelhochdeutsche Wort visamente, das „Verzierung“ und „Ornament“ bedeutete und in der Wappenkunde eine wichtige Rolle spielte. Man nimmt an, dass es irgendwann zu einer unfachgemäßen Kreuzung die­ser beiden Fachbegriffe kam und dass aus visepatentes und Visamenten schließlich Fisimatenten wurden. Mit „fies“ im Sinne von „scheußlich“ und „gemein“ haben Fisimaten­ten eigentlich nichts zu tun, doch aufgrund des ähnlichen Klangs wurde viel Fieses hineininterpretiert, sodass biswei­len auch von „fiesen Matenten“ die Rede ist.

Klangliche Angleichungen und damit verbundene Umdeutungen von Wörtern hat es früher oft gegeben, es gibt sie aber auch noch heute. Ein berühmtes Beispiel aus der jüngeren Zeit ist der Ballermann. Dabei handelt es sich um eine Verball(ermann)hornung des spanischen Wortes „balneario“. Wer jemals in S’Arenal auf Mallorca gewesen ist, der wird kaum glauben können, was das Wort „balneario“ eigentlich bedeutet: Badeort, Kurbad. Im Spanischen versteht man darunter einen Ort der Ruhe und der Erholung. Ay caramba!

(c) Bastian Sick 2007

 


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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