Sonntag, 20. Oktober 2024

Die unendliche Ausdehnung der Gegenwart

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„Diebe räumen Villa aus“, „Ehemann erschlägt Frau im Schlaf“, „Papst dankt ab“ – was immer in der Welt passiert, wir erfahren es, als geschähe es in ebendiesem Moment. Zeitungssprache verkündet die Gegenwart – dabei berichtet sie bestenfalls vom Gestern.

Wenn im Schulunterricht die Zeiten durchgenommen werden, lernt man, dass es mehrere Formen der Vergangenheit und der Zukunft gibt. Die heißen Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II. Jede dieser Zeiten hat ihre eigene Aufgabe. Sie kommen gut miteinander aus, es gibt nichts, was sie zu befürchten hätten – außer der Gegenwart (fachsprachlich: Präsens). Denn so, wie unser Universum sich immer weiter ausdehnt, dehnt sich auch die Gegenwart aus und drängt Zukunft und Vergangenheit unerbittlich an den Rand.

In der Alltagssprache erfüllt das Präsens nicht allein die Aufgabe, das Jetzt zu beschreiben; es dient auch dazu, die nahe Zukunft auszumalen: So sagt man beispielsweise „Das passiert mir nicht noch mal” statt „Das wird mir nicht noch mal passieren“, „Wann kommst du wieder“ statt „Wann wirst du wiederkommen“ und „Die Schrothmänner gehen nach Kanada“ statt „Horst und Rita Schrothmann tragen sich mit der Absicht, nach Kanada auszuwandern“.

Niemand nimmt daran Anstoß, selten kommt es hierbei zu Missverständnissen. Das Präsens ist zugegebenermaßen praktischer – zumal schneller. Stellen Sie sich vor, Sie geraten so richtig in Rage, der Ausruf „Ich platze gleich!“ liegt Ihnen bereits auf der Zunge – würden Sie sich im letzten Moment umentscheiden zu einem „Ich werde gleich platzen!“?

Das berühmte „Sie hören von uns“, das vielen Schauspielern nach einem Vorsprechen versprochen wird, verweist auf die Zukunft. Wer nun findet, dass es streng genommen „Sie werden von uns hören“ heißen müsse, dem sei entgegnet, dass „Sie hören von uns“ eigentlich etwas anderes bedeutet, nämlich: „Sie werden nie wieder von uns hören! Der Nächste, bitte!“ Insofern ist das Präsens in „Sie hören von uns“ sogar sehr treffend gewählt, denn tatsächlich hört der Angesprochene im Moment des Angesprochenwerdens etwas: nämlich dass er sich keine Hoffnungen auf die Rolle zu machen braucht.

In der Literatur hat das Präsens als Erzähltempus eine lange Tradition. Schon Gaius Julius Cäsar fasste seinen Bericht vom Gallischen Krieg vorzugsweise im Präsens ab, vor allem dann, wenn er große Eile, entschlossenes Handeln und sich überstürzende Ereignisse zum Ausdruck bringen wollte. Das „Praesens historicum“ (historisches Präsens) verlieh seinem Erzählstil dramatische Würze; weshalb es auf Deutsch auch „dramatisches Präsens“ genannt wird. Cäsars Zeiten sind lange vorbei, doch diese eine Zeit ist geblieben und erfreut sich noch heute großer Beliebtheit.

So wird das dramatische Präsens auch in der Gegenwartsliteratur gern verwendet. (Es wäre ja auch geradezu paradox, wenn Gegenwartsliteratur ohne Gegenwart auskäme.) Besonders begehrt ist das dramatische Präsens bei Journalisten. Sie setzen diese Zeitform als ultimative Waffe im Kampf gegen den Verfall ein. Schließlich weiß ein jeder: Was immer in der Zeitung steht, ist Schnee von gestern – wenn es nicht noch älter ist. Seit jeher kämpft der Zeitungsjournalismus gegen die begrenzte Haltbarkeit des Neuigkeitswertes. Kein leichtes Unterfangen! Ganz zu schweigen von dem Druck, stets und überall präsent zu sein. So injiziert man den Nachrichten Präsens, um sie länger frisch zu halten. Präsens ist das Botox der Journalistensprache.

Schlagzeilen wie „73-Jähriger erschießt seine Frau und anschließend sich selbst“ oder „Lebensmüder springt von Aussichtsplattform“ oder „Polizei nimmt Verdächtigen fest“ begegnen uns fast täglich in der Presse. (Seltener auch mal „73-Jähriger erschießt sich und anschließend seine Frau“ oder „Polizei nimmt Selbstmörder fest“.) Durch die Verwendung des Präsens wirken die Meldungen packender, reißerischer – und „zeitnäher“. Seriösere Zeitungen sind bemüht, mit dem Präsens nicht allzu verschwenderisch umzugehen. Bei anderen Zeitungen scheint das Präsens die einzige existierende Zeitform zu sein. In der „Bild“-Zeitung werden ganze Artikel im Präsens verfasst. Ein Beispiel vom 8.3.2010: „Den zweiten Täter im roten Pullover kann Roman H. zu Boden reißen. Er nimmt den maskierten Mann in den Schwitzkasten, drückt ihn zu Boden! Der Gangster lässt seinen Revolver und eine Geldtüte fallen. Der Sicherheitsmann später zu BILD: ,Der hat kein Wort gesagt. Als zivilisierter Mitteleuropäer dreht man solchen Leuten nicht gleich den Hals um – also versuchte ich, ihn zu fixieren.‘ Während der Sicherheitsmann den Gangster festhält, schnappt sich Hotelpage Freddy (19) die Tasche der Gangster. Darin offenbar mehr als 500.000 Euro – der Großteil der Beute!“

Im Unterschied zur „Bild“-Zeitung weiß der zitierte Wachmann noch das Perfekt und das Präteritum zu verwenden. Der Bericht springt zwischen zwei unterschiedlichen Zeitebenen hin und her: der Beschreibung des Tathergangs und der späteren Aussage des Wachmannes. Beide Ereignisse werden von der „Bild“-Zeitung in ein und denselben Präsenstopf geschüttet und vermengt. Ungeachtet der starken Strapazierung des Präsens muss man schon dankbar sein, in diesem kurzatmigen Stakkato-Stil überhaupt noch ab und zu ein Prädikat zu finden. Nach der Lektüre der „Bild“-Zeitung habe ich jedes Mal erhöhten Puls und leichte Angstzustände. Die Wucht und Unmittelbarkeit, mit der all die Gewalt und das Böse dieser Welt über mich hereinbrechen, sind nichts für meine schwachen Nerven. So viel Präsens verkrafte ich nicht.

Präsens kann erregen, erschöpfen, und manchmal kann es einen auch hinters Licht führen. So las ich unlängst im Kulturteil einer Hamburger Zeitung „Thomas Quasthoff singt Jazz in der Laeiszhalle“ und freute mich schon; verhieß die Überschrift doch die Aussicht auf einen erlesenen Musikabend. Zwei Zeilen weiter begriff ich, dass es eigentlich hätte heißen müssen „Thomas Quasthoff sang“, denn das Konzert hatte bereits stattgefunden; der Bericht war keine Ankündigung, sondern eine Nachlese. „Musikliebhaber freut sich auf verpasstes Konzert wegen irreführender Tempuswahl“, kritzelte ich enttäuscht in mein Notizbuch.

Wer im Internet nach Angaben zu einem Treffen zwischen Angela Merkel und Barack Obama sucht, findet unter anderem den Hinweis „Merkel trifft Obama beim Nukleargipfel in Washington“. Damit weiß er allerdings nicht, ob dieses Treffen bereits stattgefunden hat oder erst noch stattfinden wird, denn diese Zeile lässt sich in beide Richtungen deuten: als „Merkel traf Obama“ oder als „Merkel wird Obama treffen“. Das hier verwendete Präsens kann sowohl für die Vergangenheit stehen als auch auf die Zukunft hinweisen. Nur eine Zeit lässt sich von der hier verwendeten Gegenwartsform mit ziemlicher Sicherheit ausschließen: die Gegenwart.

(c) Bastian Sick 2010


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.

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