Donnerstag, 10. Oktober 2024

Die Weihnachtsarche

oder: Wie Biber, Hase und Wal zu ihrer Schreibweise kamen

Der kleine Lukas zeigt uns seinen Wunschzettel für den Weihnachtsmann. In krakeliger Kinderschrift steht darauf zu lesen: »ein Buch über Waale«. Seine Mutter lacht: „Das kannst du aber nicht bekommen. Höchstens ein Buch über Wale. Der Wal schreibt sich nämlich nur mit einem a.“ – „Warum?“, fragt Lukas. Hilfesuchend blickt mich seine Mutter an. „Nun“, sage ich, „es gibt dafür natürlich eine sprachwissenschaftliche Erklärung. Aber weil bald Weihnachten ist, erzähle ich dir lieber eine Geschichte.“ Und die ging so: 

Seit Tagen hatte es geschneit. Der ganze Wald lag unter einer dicken Schneedecke begraben. Die Tiere fanden nichts mehr zu fressen. Der Haase fand kein Gras mehr, das Ree keine Blätter mehr, der Bäär keine Baumfrüchte mehr und der Biiber keine Rinde mehr. „Wir werden verhungern!“, meinte das Ree bekümmert. Der Bäär nickte und seufzte mit Blick auf den Haasen: „Zu dumm, dass ich Vegetarier geworden bin.“ Doch Rettung war schon unterwegs. Und zwar in Form des Weihnachtsmanns, der mit seinem fliegenden Schiff voller Geschenke gerade vom Nordpol kam. Er hatte Mitleid mit den hungernden Tieren und nahm sie an Bord. Dort befanden sich bereits einige andere Tiere, darunter ein Kameel, ein Zeebra, ein Lööwe und ein Tiiger. „Die sind aus einem Zirkus“, erklärte der Weihnachtsmann. „Ich musste sie vor dem Erfrieren retten.“ Nach und nach kamen immer weitere Tiere hinzu: ein Eesel, ein Raabe, ein Reentier und eine Mööwe. Aus dem eisigen Meer lasen sie einen stocksteif gefrorenen Aal und mehrere Heeringe auf. Zu guter Letzt entdeckten sie einen Waal, der im Eis festsaß und weder vor noch zurück kam. „Dem  müssen wir da raushelfen!“, beschloss der Weihnachtsmann. Mit vereinten Kräften zogen sie den Waal an Bord. Doch nun war das Schiff so schwer geworden, dass es zu sinken drohte.  „Wir müssen Ballast abwerfen!“, rief der Weihnachtsmann. „Was denn für Ballast?“, fragten die Tiere. „Meinst du die Geschenke?“ – „Um Himmels willen!“, entfuhr es dem Weihnachtsmann. „Nicht die Geschenke! Sonst muss Weihnachten dieses Jahr ausfallen! Nehmt etwas anderes.“ – „Aber was?“, fragten die Tiere ratlos. Der Weihnachtsmann überlegte, dann fiel ihm etwas ein: „Werft eure doppelten Vokale über Bord! Auf die könnt ihr verzichten. Das sollte uns über Wasser halten!“ – „Wenn du meinst“, brummte der Bäär und trennte sich von einem ä. „Steht dir gut!“, meinte der Haase. „Du siehst gleich viel schlanker aus!“ Dann warf er selbst ein a ins Wasser. Der Raabe tat es ihm nach. Die anderen folgten seinem Beispiel. Der Biiber und der Tiiger warfen ihr doppeltes i über Bord, der Eesel, das Reentier, die Heeringe, das Zeebra und das Kameel jeweils ein e und der Lööwe und die Mööwe ein ö. Auch das Ree trennte sich von seinem zweiten e, doch danach fiel es um. „Es kann sich auf zwei Buchstaben nicht halten!“, stellte der Weihnachtsmann fest und gab ihm als Stütze ein h. „Danke, so geht’s wieder“, sagte das Reh. Als schließlich der Waal sein doppeltes a über Bord warf, hob sich das Schiff, und alle atmeten erleichtert auf. „Dann kann ich ja mein zweites a behalten“, dachte der Aal und freute sich. 

Aus Dankbarkeit für ihre Rettung halfen die Tiere dem Weihnachtsmann, die Geschenke zu verteilen. „O seht nur“, sagte der Wal. „Hier bekommt jemand ein Buch über mich! Aber da muss eine Kleinigkeit geändert werden.“ Darauf lieh er sich vom Weihnachtsmann einen Filzstift und strich aus dem Wort „Waale“ das doppelte a.

Für Petra Haase, Kulturressortleiterin der »Lübecker Nachrichten« anlässlich ihres Abschieds Weihnachten 2022

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2 Kommentare

  1. Eine nette Geschichte ohne * : und anderen Quatsch, dankeschön! Ihnen muss doch das Ohr klingen bei der Verhunzung der Sprache, die für mich eigentlich schon keine mehr ist! Fröhliche Weihnacht!

  2. Waale gibt es doch: Es sind die Wasserkanäle in Südtirol.

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