Donnerstag, 18. April 2024

In Massen geniessen

„Sie sollten diesen edlen Tropfen in Massen geniessen“, empfiehlt ein Weinhändler seinen Kunden und lässt sie dabei mit der Frage zurück, ob man sich den Rebensaft nun in winzigen Schlucken genehmigen oder in Sturzbächen durch die Kehle laufen lassen sollte. Manche Menschen leiden an Ess-Störungen, andere an Eszett-Störungen.

Die deutsche Sprache gönnt sich manchen Luxus, und einer davon ist die Existenz eines zusätzlichen Buchstabens. Andere Sprachen haben Akzente (á, é, à, è), setzen ihren Buchstaben lustige Hütchen auf (â, č, ê, š), durchbohren sie mit Querbalken (ø), hängen ihnen ein Schwänzchen an (ç, ş), verknoten sie (æ, œ) oder föhnen ihnen wellige Frisuren (ñ, ã), die deutsche Sprache nimmt sich dagegen noch relativ bescheiden aus. Sie erfand die Umlaute und jenen Buchstaben, der im Alphabet zwar nicht vorkommt, in unserer Schriftsprache aber eine so große Rolle spielt, dass er auf deutschsprachigen Tastaturen eine eigene Taste bekommen hat: das Eszett (ß), auch „scharfes S“ genannt.

Entstanden ist das Eszett aus einer Ligatur, einer Verbindung aus zwei Buchstaben: dem fahnenstangenlangen Anfangs- und Innen-s und dem schnörkeligen Schluss-s der Frakturschrift, die vom 16. Jahrhundert an bis etwa 1940 im deutschen Buch- und Zeitungsdruck verwendet wurde. Das Ergebnis der Verschmelzung sah dann so aus, als ob ein z daran beteiligt wäre, was der Ligatur den Namen Eszett eingebracht hat. Bei der Übernahme in die lateinische Schrift wurden die Ecken des Eszetts gerundet und der Topp abgesägt, sodass es dem B sehr ähnlich wurde (mit dem ihn viele Ausländer auch immer wieder verwechseln). Obwohl das Schreiben und maschinelle Erzeugen des Eszetts für Deutsche und Österreicher keine große Herausforderung darstellt, tun sich viele mit ihm schwer. Dies liegt vor allem daran, dass das ß genauso klingt wie ein einfaches scharfes s und erst recht wie das immerscharfe Doppel-s. Außerdem erscheint es nur unter bestimmten Voraussetzungen im Wort, und das hängt mit der Länge der Vokale zusammen. Die werden allerdings nicht überall gleich gesprochen. Je nach Region werden sie mal gestaucht und mal gedehnt. Während der Norddeutsche kurz „muss“, sagt der Wiener „mu(uu)ss“ mit extralangem u und wundert sich, warum er dann kein ß setzen soll. In Bayern wiederum kann man nicht lange Maß halten, dort trinkt man die Mass am liebsten in Massen. Die Schreibweise mit Doppel-s ist daher im Freistaat ausdrücklich erlaubt. Einige Bayern werden sogar fuchsteufelswild, wenn man ihre Mass mit ß schreibt. Andere Bayern bevorzugen die hochdeutsche Schreibweise, so wie die Münchner „Abendzeitung“, die empört vermeldete: „Sieben Euro für eine Wiesn-Maß!“

Rund 4,7 Millionen Menschen zwischen Basel, Bern und Chur brauchen sich über das ß nicht den Kopf zu zerbrechen – im Land der Bankschließfächer und der Präzisionsuhren kommt der unbequeme Buchstabe seit den dreißiger Jahren nicht mehr vor. In Deutschland und Österreich ist er geblieben. Manche pfeifen auf die Rechtschreibreform und setzen das ß auch dort noch, wo es gemäß den neuen Regeln nicht mehr hingehört. Andere wiederum glauben, das ß sei mit der Rechtschreibreform komplett abgeschafft worden. Das sind zum Beispiel all jene Leute, die ihre Briefe und E-Mails beharrlich mit „freundlichen Grüssen“ unterschreiben.

Das Eszett hat es in sich, wie jener Großwildjäger zu berichten weiß, der im Dschungel um ein Haar von einer Riesenschlange gefressen worden wäre:

Von der langen Wanderung erschöpft, ließ sich der Großwildjäger unter einem Baum nieder. Er hatte die Riesenschlange nicht bemerkt, die sich oben im dichten Blattwerk versteckt hielt. Kaum war er eingenickt, glitt das Schuppentier geräuschlos den Stamm hinab und begann, den Jäger zu umschlingen. Davon erwachte er, und erschrocken rief er aus: „He, du ekelhaftes Vieh, lass mich auf der Stelle los!“ – „Ich würde esss sssehr begrüsssen, wenn Sssie mich nicht ssso anbrüllen würden“, erwiderte die Schlange, „ich bin nämlich sssehr geräuschempfindlich!“ – „Dann hör auf, mich zu würgen“, rief der Jäger. „Tut mir Leid, ich kann nicht andersss, ich bin nämlich eine Würgeschlange“, entschuldigte sich die Schlange und wand sich ein weiteres Mal um den Leib den Jägers. „Du bissst ein lecker Frasss“, stellte sie fest, „man sssollte dich mit einer würzzzigen Sssossse übergiesssen!“ – „Und dich sollte man zu einer Handtasche verarbeiten, dann würden dich die Frauen auf dem Broadway spazieren führen!“, sagte der Jäger grimmig. „Ich würde esss sssehr begrüsssen, wenn wir unsss aussschliessslich über Esssen unterhalten könnten“, sagte die Schlange, „ich habe nämlich ssseit Wochen keinen Bisssen mehr gehabt. Dasss letzte war ein hässslicher Hassse ausss Hesssen.“ – „Du hast mein Mitgefühl“, sagte der Jäger und fügte hinzu: „Übrigens, deine Aussprache ist grauenhaft, von deinem zischelnden Gelispel wird einem ganz übel!“ – „Ich lissspel nicht!“, widersprach die Schlange und drückte noch etwas fester zu, „ich pflege lediglich eine klare Ausssprache!“ – „Du hast eine S-Störung!“, sagte der Jäger. „Ich? Eine Esss-Ssstörung? Dasss hat mir noch keiner gesssagt! Warte, bisss ich dich hinuntergewürgt habe, dann sssprechen wir unsss wieder!“ – „Nein, ich wollte sagen, du kannst ss und ß nicht auseinander halten“, stellte der Jäger richtig, „es klingt entsetzlich; ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie das geschrieben aussieht!“ – „Esss gibt keinen Unterschied zwischen sss und sss!“, erwiderte die Schlange gereizt. „Aber klar doch!“, sagte der Jäger, „hör nur mal genau hin: Es ist schon ein Unterschied,

  • ob man einen Kloß im Hals hat oder einen Koloss im Haus,
  • ob man als Verkehrsunternehmer seine Busse bezahlt oder lieber Buße bezahlt,
  • ob man als Trompeter in Maßen bläst oder in der Masse verblasst,
  • ob die Kerzen in der Kirche rußen oder Russen in der Kirche husten,
  • ob man mit Genuss Nüsse isst oder Kartoffelmus mit Soße genießt,
  • ob man wie ein Schlosshund jault oder einen Schoßhund krault,
  • ob der Bäcker den Zuckerguss goss oder zu gießen vergaß,
  • ob man den Fluss im Fass hinunterschoss oder sich auf einem großen Floß den Fuß stieß,
  • ob man sich gestresst ins Strasskleid presst oder mit Vollgas über die Straße rast,
  • ob man als kesser Frosch von einer feschen Prinzessin auf die nassen Flossen geküsst wird oder
  • ob man von einem spaßlosen Spießer, der scheußlich nach Schweiß riecht, süßlich gegrüßt wird …“

„Hör auf!“, jammerte die Schlange, „ich kann nicht mehr! Dasss issst ja unerträglich!“ Der Jäger nutzte die intellektuelle Irritation des Kriechtieres, um die Umklammerung zu lockern, so dass er eine Hand frei bekam. „Der Unterschied zwischen ss und ß ist ganz einfach“, sagte er, während er an seiner Tasche nestelte, „und die Regeln sind seit der Rechtschreibreform sogar noch einfacher geworden.“ – „Komm mir nicht mit der Rechtschreibreform“, zischte die Schlange giftig, „die gilt hier nicht! Hier gilt dasss Gesssetzzz desss Dschungelsss! Ich glaube nur, wasss ich weisss!“ – „Es heißt weiß, nicht weiss!“, insistierte der Jäger. „Hinter kurzen Vokalen steht ss, hinter langen ß, das ist doch kinderleicht! Selbst eine Schlange sollte sich das merken können! Du wirst mich nicht fressen, bevor du den Unterschied zwischen ss und ß begriffen hast!“ – „Pech für dich: Ich habe einen Schweizzzer Passs! Für uns Schweizzzer exissstiert dasss Essszzzett nicht! Wir schreiben allesss mit Doppel-sss!“ – „Welch ein Zufall“, sagte der Jäger und ließ eine Klinge aufblitzen, „du hast einen Schweizer Pass, ich habe ein Schweizer Messer! Und wenn du mich nicht augenblicklich frei gibst, wirst du doch noch als Handtasche enden!“ Entsetzt ließ die Schlange von ihrem Opfer ab und schlängelte sich davon. „Dann eben nicht“, zischte sie verärgert, „issst vermutlich bessser ssso. Wenn ich den verschluckt hätte, hätte ich am Ende doch noch Esss-Ssstörungen bekommen!“


Mit freundlichen Grüßen!

 

Hier sind die vier goldenen Regeln für den richtigen Gebrauch von ss und ß noch einmal zusammengefasst:

 

1. Hinter kurzen Vokalen steht grundsätzlich ss, auch am Wortende:

Das Fass war nass nach der Fahrt im Fluss. Ich wusste, dass du ihn geküsst hast, obwohl du ihn gehasst hast. Ich musste den Pass vorzeigen. Nur keinen Stress! Ich wüsste gern, wie das passiert ist. Das Schloss war offen. Er schoss auf Massen von Gösseln aus Russland.

2. Hinter langen Vokalen steht grundsätzlich ß:

Das große Floß trieb träge dahin. Das Maß ist voll, der Spaß vorbei. Ich vergaß, ihn zu grüßen. Je größer das Verbot, desto süßer das Verlangen. Im Schoß der Familie, zu Fuß über die Straße. Schließlich und endlich fließt alles in den Orkus.

3. Hinter Doppellauten (Diphthongen), das sind au, äu, eu und ei, steht grundsätzlich ein ß, da sie die Natur von langen Vokalen haben:

Ich weiß von nichts. Er war außer sich vor Wut.

Er äußerte einen scheußlichen Wunsch.

Reißen Sie sich gefälligst zusammen!“, befahl der preußische Offizier.

Mit schweißnassen Haaren soll man nicht nach draußen gehen.

 

4. In VERSALIENSCHREIBUNG wird das ß grundsätzlich als SS dargestellt:

ACHTUNG! SCHIESSÜBUNGSGELÄNDE!

PREUSSISCHES MUSEUM

VORSICHT BEIM ÖFFNEN DES REISSVERSCHLUSSES

FUSSGÄNGER STRASSENSEITE WECHSELN!

niemals:

MIT FREUNDLICHEN GRÜßEN

(c) Bastian Sick 2004


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

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13 Kommentare

  1. Gerade in letzter Zeit fällt mir ein verstärkter Gebrauch des „ß“ bei Sätzen in Versalien auf. Speziell im Fernsehen ist dies z.B bei Programmankündigungen oder Titeln gang und gäbe. Bei Namen von Schauspielern wird dann aus Josefine Preuß „JOSEFINE PREUß“. Da mir das ein ausgesprochener Dorn im Auge ist, habe ich diese falsche Schreibweise im Duden nachgeschlagen und dort ist durchaus von einer gewissen Toleranz die Rede und bezeichnet dies nicht als zwingend falsch. Wie ist da Ihre Einstellung?

  2. Lieber Herr Sick
    ihr Beitrag erstaunt mich sehr. Seit einigen Wochen war ich als Schweizerin der Meinung, den Grund für das von Deutschen verwendeten Doppel-S, das es eben auf meiner Tastatur nicht gibt, zu kennen. Ein Kursleiter erzählte sehr glaubwürdig, dass dies seit dem 2. Weltkrieg so sei, weil die Deutschen kein ss mehr schreiben wollen. Ist das also ein Märchen, das ich gleich wieder aus meinem Gehirn streichen muss?

    Mit freundlichen Grüssen Helena Gysin

    • Hihihi, sehr schön! Da sind Sie einem ganz üblen Scherz aufgesessen. Das ß gibt es ja schon viel länger und das „ss“ gibt es im Deutschen immer noch zuhauf.

      Mit freundlichen Grüßen von Otto

  3. Ssssuper! Vielen Dank!

  4. Nicht nur für mich (siehe u. a. Wikipedia unter „ß“) entstand das Eszett aus einer Ligatur aus einem „langen-S“ und einem „kleinen Z“ der Frakturschrift und nicht dem „Schluss-S“.
    Zum Kommentar der Schweizerin Helene Gysin: Mir wurde vor Jahren von einem Schweitzer Typografen erklärt, die (Schweizer) Abschaffung des Eszetts hätte ihren Grund darin, dass die Schweizer Schreibmaschinenhersteller für alle in der Schweiz amtlichen Sprachen eine einheitliche Tastatur wünschten. Hier war eben die deutsche Tastatur der französischen und italienischen unterlegen.
    Der Schweizer Diogenes Verlag allerdings publiziert seine Bücher in der ß-Schreibweise. Ich glaube nicht, dass es eine eigene Auflage für die Schweiz gibt.

  5. Ein sehr schöner Artikel, danke! Und ich habe mich auch gefreut, dass jemand mal die Herkunft des scharfen S korrekt darstellt – das Märchen von der wahrhaftigen Entstehung aus SZ kann ich schon nicht mehr hören, auch wenn es von vielen Laien inklusive Wikipedia-Autoren immer noch verbreitet wird. Wer einen Spitznamen mit der Realität verwechselt, wird am Schluss noch glauben, dass sich die Klammeraffen in den Mailadressen aus Primaten entwickelt haben.

    • Wieso heißt es dann Eszett und nicht SS, wenn es aus zwei verschiedenen Fraktur-S entstanden ist? Und weshalb hat man früher das Eszett in Versalien mit SZ geschrieben? Ich kann auch beim besten Willen im zweiten Teil des Eszetts kein Fraktur-Schluss-S erkennen, sondern ein Fraktur-Z mit Unterlänge. Aber vielleicht klärt Bastian Sick die Lage? Aber nicht verbal, sondern mit Frakturschrift …

  6. Aber folgende Ausnahmen:

    Haus, raus, aus. Und eben nicht: Hauß, rauß, auß.

    • Nein, das sind keine Ausnahmen. Das ist eine andere Regel. Es gibt im Deutschen eine ganze Reihe von Wörtern, die auf ein weiches S enden: Haus, Maus, fies, mies, Ausweis, Hinweis, Gras, Gas und Los sind nur einige davon. Dass es sich um ein weiches „s“ handelt, wird deutlich, wenn man das Wort verlängert: Häuser, Mäuse, fiese, miese, Ausweise, Hinweise, Gräser, Gase, Lose. Auch ein paar unveränderbare Wörter wie „aus“, „raus“, „bis“ und „das“ gehören dazu.

  7. Vielen Dank für Nachholbildung in Sachen „SS“, womit wir in der Schweiz nie geplagt wurden und ich daher nie den Durchblick hatte wie der eingesetzt wird.

  8. Hallo Herr Sick,
    „Wenn ihr euren Werbespruch in Versalien schreiben wollt, also in durchgehenden GROSSBUCHSTABEN, dann geht es nur mit Doppel-S, weil das Eszett nicht als Großbuchstabe existiert.“

    Vor vielen Jahren bereits, stand bei Platzreservierungen im Zug, die Bezeichnung GIESZEN für Gießen. Das habe ich also damals ‚gelernt‘! Soll ich es wieder intern überarbeiten bzw. aus dem Gedächtnis streichen?
    Und auch „Entstanden ist das Eszett aus einer Ligatur, einer Verbindung aus zwei Buchstaben: dem fahnenstangenlangen Anfangs- und Innen-s und dem schnörkeligen Schluss-s der Frakturschrift, die vom 16. Jahrhundert an bis etwa 1940 im deutschen Buch- und Zeitungsdruck verwendet wurde.

    Das Ergebnis der Verschmelzung sah dann so aus, als ob ein z daran beteiligt wäre, was der Ligatur den Namen Eszett eingebracht hat.“
    Dann ist SZ für ß tatsächlich eine Marotte von irgendeinem Bahnangestellten gewesen?

    Übrigens bedaure ich die Aufgabe der Frakturschrift, obwohl Amerikaner. Auf mich muß man ja nicht hören.

    Sie können mir sicher sagen, wie man korrekt die alte Deutsche Handschrift bezeichnet. Gehört habe ich Gotische Schrift, Altdeutsche Schrift, Hölderlin Schrift usw. Die habe ich aus Spass gelernt. Meine Kinder hingegen, können sie nicht.

    Mit freundlichen Grüßen

    B. S.

  9. Harald Szuszkiewicz

    Lieber Hr. Sick!
    Danke hier nochmals für die Regeln für ‚ß‘ und ’ss‘ gemäß der ‚Neuen Deutschen Rechtschreibung‘. Übrigens meiner Meinung nach der einzige Fall in diesem Machwerk, für den es wirklich klare und logisch nachvollziehbare Regeln gibt – kurze Vokale -> ’ss‘, lange Vokal -> ‚ß‘. Interessant fand ich jedoch, dass Sie gerade das Wort ‚Spaß‘ als Beispiel für einen langen Vokal anführen. In Österreich trifft dies auch zu, in Deutschland habe ich eher die gegenteilige Erfahrung gemacht, dort hat man eher ‚Spass‘. Ebenso wie man bei Ihnen auch ein ‚Geschoss‘ im Gewehr hat wo hingegen in Österreich ein ‚Geschoß‘ verschossen wird. Meines Wissens sind auch beide Schreibweisen zulässig, man darf es so schreiben wie man es spricht. Oder irre ich da?
    Liebe Grüße, harald szuszkiewicz

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