Mittwoch, 27. März 2024

(K)ein Name für diese Dekade

Es muss sich doch jeder schon einmal gefragt haben, in welchem Jahrzehnt wir eigentlich leben? Ich bin ein Kind der Sechziger und der Siebziger, inzwischen sind die achtziger und auch die neunziger Jahre vorbei. Doch was kommt danach? Was ist jetzt? Wie nennt man die Dekade, in der wir leben?

Am 1. Januar 2001 (sic!) begann nicht nur ein neues Jahrhundert, sondern sogar ein neues Jahrtausend – das bereits 365 Tage zuvor überall auf der Welt mit großen Feierlichkeiten begrüßt worden war. Davon abgesehen begann am 1. Januar 2001 aber auch ein neues Jahrzehnt. Und eine Frage, die viele Menschen beschäftigt, lautet: Wie nennt man dieses Jahrzehnt?

Vor hundert Jahren muss diese Frage schon einmal die Gemüter der Sprachinteressierten bewegt haben. Schließlich befand man sich – kalendarisch – 1905 in einer ähnlichen Situation. Ein Name und somit eine Lösung des Problems wurden aber offensichtlich nicht gefunden. Auch das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts blieb namenlos. Den Ausdruck „Zehnerjahre“ gab es wohl, aber er wurde nur selten gebraucht und hat sich historisch nicht durchgesetzt. Und erst recht gab es keine „Nulljahre“ oder „Nullerjahre“ als Bezeichnung für das erste Jahrzehnt. Wer 1905 geboren war, der war „Jahrgang 05“, aber er bezeichnete sich nicht als „in den Nullern geboren“. Erst das dritte Jahrzehnt hat einen Namen bekommen, der dann – im Nachhinein – sogar vergoldet wurde: die (goldenen) Zwanziger. Von da an ging es in Zehnerschritten weiter. Im Nachhinein wurden die Jahre von 1901 bis 1918 der Wilhelminischen Ära zugeschlagen, welche bekanntlich mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg endete. Da dieser Krieg einen viel größeren Einschnitt markierte als der Wechsel von einem Jahrzehnt zum anderen, stellte sich die Frage nach einer numerischen Benennung der ersten beiden Jahrzehnte später nicht mehr.

Ob dies in unserem Fall einmal genauso sein wird? Darüber wird die Geschichte entscheiden. Allerdings: das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist schon zur Hälfte abgelaufen. Noch retten sich die Radiosender mit der Formulierung „Die Mega-Hits der Achtziger, der Neunziger und das Beste von heute!“ Und das Fernsehen hat nach den Siebziger-, den Achtziger- und den Neunziger-Kultshows erst mal eine Pause eingelegt. Irgendwann aber werden wir das Jahr 2011 schreiben, und irgendeinem Fernsehintendanten wird einfallen, dass das zurückliegende Jahrzehnt eine eigene Retrospektive verdient. Spätestens dann braucht das Kind einen Namen. Vielleicht wird er sie „die Zweitausender-Show“ nennen – oder „Die Kulthits des Jahrtausends“. In diesem Zusammenhang fällt mir auf, dass das Wort „Millennium“, das einem 1999 mindestens fünfmal täglich in die Augen sprang, heute überhaupt nicht mehr verwendet wird. Der beste Beweis dafür, dass nur das überlebt, was wirklich gebraucht wird. Und vielleicht brauchen wir tatsächlich auch keine Bezeichnung für dieses erste Jahrzehnt. Womöglich werden die Deutschen auch in diesem Jahrhundert erst wieder ab der dritten Dekade anfangen, Zahlen zu vergeben. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass sich 20 Jahre gerade noch überblicken lassen. Das entspricht einer Generation. Erst darüber hinaus wird’s dann langsam unübersichtlich, sodass man auf Zahlwörter zur Unterteilung und Abgrenzung zurückgreift.

Was für das Jahrhundert gilt, scheint auch für die Lebensalter des Menschen zu gelten. Man kennt Männer in den Fünfzigern, Frauen in den Vierzigern, man spricht von Mittdreißigern und Endzwanzigern – aber darunter wird es schwierig. Da muss man sich schon mit englischen oder pseudo-englischen Begriffen wie Teenager und Twen behelfen. Für das erste Lebensjahrzehnt eines Menschen aber hilft uns auch das Englische nicht weiter. Was wohl damit zusammenhängt, dass die Unterschiede zwischen einem einjährigen, einem sechsjährigen und einem zehnjährigen Kind einfach zu groß und somit für eine Zusammenfassung nicht geeignet sind. Stattdessen spricht man von Kindheit und Jugend, von Kindern im Vorschulalter und von solchen im schulpflichtigen Alter, von der Zeit vor der Pubertät, während der Pubertät und nach der Pubertät.

Ich wollte es natürlich genau wissen und habe die Leser meiner Internet-Kolumne gefragt, wie sie die erste Dekade dieses Jahrhunderts nennen würden. Ich erhielt Dutzende von Zuschriften, die an Einfallsreichtum und Originalität nichts vermissen ließen: Nuller, Postneunziger, Neutausender, Vorzehner, Nachneunziger, Hunderter, Primdeka, Dekade eins, Zeroden, Millies, Pomilde (für „Post-Millenniums-Dekade“), Edeka und Zwedeka (für Erste und Zweite Dekade) und viele Vorschläge mehr.

Bezeichnenderweise gibt es auch in anderen Sprachen keinen Begriff für das erste Jahrzehnt. Wir stehen mit dem Problem also nicht allein da. Die englische Umgangssprache, für ihren Erfindungsreichtum bekannt, hat den Begriff „the naughties“ (auch: noughties) geprägt. Ein Zusammenspiel aus den Wörtern „nought“ „naught“ (= nichts, Null) und „naughty“ (= ungezogen, unanständig), das sinngemäß also „die Nuller“ und zugleich „die unartigen Jahre“ bedeutet. Angesichts unserer Empfänglichkeit für englische Modewörter haben die „Naughties“ möglicherweise auch im Deutschen eine Chance. Vielleicht aber findet sich irgendwann doch noch ein passender deutscher Begriff.

Ein Radiosender hat sich in weiser Voraussicht den Begriff „Nullziger“ schützen lassen. In der entsprechenden Titelschutzerklärung eines Hamburger Anwalts heißt es: „Unter Hinweis auf § 5 Abs. 3 MarkenG nehmen wir für eine Mandantin Titelschutz in Anspruch für „Nullziger“, „Die Mega-Hits der 80er, 90er, Nullziger und das Beste von heute“, „Die Mega-Hits der 90er, Nullziger und das Beste von heute“ in allen Schreibweisen, Wortverbindungen und Darstellungsformen für Ton- und Fernsehrundfunk, alle sonstigen elektronischen Medien und Netzwerke, Bild-, Ton- und Datenträger, Spielfilmproduktionen und Druckerzeugnisse.“

Also dann, liebe Freunde der Popmusik: Willkommen in den Nullzigern!

(c) Bastian Sick 2005


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 2“ erschienen.

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