Sonntag, 20. Oktober 2024

Liebe Gläubiginnen und Gläubige

Kolleginnen und Kollegen, Rentnerinnen und Rentner, StudentInnen und SchülerInnen – wie kein anderes Volk auf der Welt sind die Deutschen ein Volk der Bürgerinnen und Bürger. Doch wo bleiben die Steuerhinterzieherinnen, die Extremistinnen und die Schwarzfahrerinnen?

Grimmig blickt der Boss in die Runde: „Es muss sich was ändern!“, sagt er. Ohrfeigen-Toni kratzt sich ratlos am Hinterkopf. Automaten-Ede starrt wie immer gelangweilt auf seine Fingernägel. „Was meinst du denn, Boss“, fragt er, „was soll sich ändern?“ – „Wir müssen was für unser Image tun! Wir müssen freundlicher werden, vor allem zu den Frauen!“ Verdutztes Schweigen. „Freundlicher? Zu den Weibern? Aber wir sind doch schon freundlich genug, Boss! Wir machen ihnen teure Geschenke, lassen sie mit unserer Kreditkarte einkaufen…“ – „Das reicht aber nicht! Die Frauen von heute verlangen mehr. Sie wollen vor allem … Respekt! Und Chancengleichheit! Hier steht es, überzeugt euch selbst!“ Wahllos greift er in einen Stapel bedruckten Papiers vor sich, fischt etwas heraus und liest vor: „Die Lehrerinnen und Lehrer unserer Schule haben im letzten Jahr … blah, blah, blah… dann hier: … die Aktion, an der sich dreihundert Schülerinnen und Schüler beteiligten …“ – Er wirft das Blatt in die Luft, greift sich ein anderes und liest: „Der Ausschuss der Studentinnen und Studenten der Universität hat beschlossen … blah, blah, blah,“ – Das nächste: „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Betriebes … blah, blah, blah.“ Erwartungsvoll sieht er seine Mitarbeiter an: „Na, merkt ihr, was da abgeht?“ –„Ziemlich viel blah, blah, blah“, sagt Automaten-Ede gelangweilt, „was soll der Mist? Willst du uns zu Tode langweilen?“ – „Es geht um die Frauen!“, schreit der Boss und knallt die Faust auf den Tisch. „Kein Rundschreiben, keine Mitgliederbroschüre, kein Flugblatt mehr, auf dem die Frauen nicht extra erwähnt würden!“ – „Und was geht uns das an?“, fragt Ohrfeigen-Toni achselzuckend. Der Boss wirft ihm einen verächtlichen Blick zu: „Du verstehst eben nichts von moderner Unternehmensführung. Wer konkurrenzfähig bleiben will, kann nicht länger so tun, als wären die Frauen Luft! Er muss sie erwähnen, in jeder Rede, in jedem Satz! Sonst gilt man als frauenfeindlich, und dann ist man ganz schnell weg vom Fenster!“ – „So wie Balkan-Ali, der ist auch weg vom Fenster“, fällt Automaten-Ede ein, „nachdem er seine Alte im Suff die Treppe runtergestoßen hat.“

Der Boss hat die Zeichen der Zeit erkannt. In anderen Ländern mag es zweisprachige Schulen und zweisprachiges Fernsehen geben, bei uns gibt es die zweigeschlechtliche Anrede. Alles, was gedruckt oder gesendet wird, wird doppelt adressiert, einmal an die männlichen und einmal an die weiblichen Empfänger: die sehr verehrten Zuschauer und Zuschauerinnen, die geschätzten Leserinnen und Leser und die lieben Hörerinnen und Hörer.

Heute haben es die Arbeitgeber nicht nur mit Arbeiterinnen und Arbeitern zu tun, sondern auch mit Gewerkschafterinnen, Betriebsrätinnen, Geschäftsführerinnen und Gesellschafterinnen. Hätten Marx und Engels das vorausgesehen, hätten sie ihren berühmten Aufruf „Vereinigt euch!“ gewiss an die „Proletarierinnen und Proletarier aller Länder“ erlassen.

Immer neue SchülerInnengenerationen wachsen mit der Innenmajuskel heran, einem umstrittenen typografischen Notbehelf, mit dem man zusammenpresst, was man zuvor verdoppelt hat. Vom Schulbuch über Rundschreiben, Flugblätter bis zum ersten „taz“-Abonnement haben die jungen Leute gelernt, dass es für jede Berufsbezeichnung und Gruppenzugehörigkeit eine weibliche und eine männliche Form gibt. Ausnahmslos. Und wo die weibliche Form bislang fehlte, da wird sie erschaffen; notfalls wird Adam die Rippe mit Gewalt herausgebrochen. 100 Jahre Frauenbewegung haben unsere Gesellschaft deutlich verändert – und unsere Sprache auch.

Längst hat jeder Politiker die „Innen“ in diesem Lande verInnerlicht. Viel zu groß ist die Angst, als antiemanzipatorisch und reaktionär gebrandmarkt zu werden, denn das ist gleichbedeutend mit unwählbar. So spricht jeder heute ganz selbstverständlich von den Wählerinnen und Wählern, den Europäerinnen und Europäern, den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. Daran haben wir uns inzwischen alle gewöhnt.

Man kann bei allzu tiefer Verneigung vor dem weiblichen Geschlecht auch schon mal auf die Nase fallen: Immer wieder kommt es vor, dass eilfertig von der „ersten weiblichen Präsidentin“ eines Landes oder „der ersten weiblichen Pilotin“ einer Fluggesellschaft berichtet wird.

Geradezu grotesk wird es, wenn das zu verweiblichende Hauptwort in Wahrheit gar nicht männlich, sondern sächlich ist, so wie das Wort Mitglied, das sich, zu „Mitgliederinnen“ vervielfältigt, recht seltsam anhört. An der Uni begrüßt man die „Erstsemesterinnen und Erstsemester“, und wer mit jungen Menschen zu tun hat, der unterscheidet ganz selbstverständlich zwischen Teenager und Teenagerin, obwohl der Teenager laut Lexikon ein „Junge oder Mädchen im Alter zwischen 13 und 19 Jahren“ ist.

Bekanntlich ist die Kirche eine eher konservative Institution, dort setzt man sich länger als anderswo gegen sprachliche Moden zur Wehr; sonst würden die Gottesdienstbesucher (und -besucherinnen) womöglich schon hier und da als „Liebe Gläubiginnen und Gläubige“ begrüßt.

Nicht jeder, der sein Brot in Forschung und Lehre verdient, hält es durch, ständig von „Studentinnen und Studenten“, von „Doktorandinnen und Doktoranden“, von „Assistentinnen und Assistenten“ zu sprechen. So machte man sich auf die Suche nach Pluralwörtern, die bereits beide Formen enthalten – und wurde auch fündig: Kurzerhand ersetzte man „Studentinnen und Studenten“ durch „Studierende“. Das war deutlich kürzer und trotzdem noch politisch korrekt. Leider allerdings ein grammatikalischer Missgriff: „Studierend“ ist nur, wer im Moment auch wirklich studiert, so wie der Lesende gerade liest und der Arbeitende gerade arbeitet. Ein Leser kann auch mal fernsehen und ein Arbeiter Pause machen. Der Lesende aber ist kein Lesender mehr, wenn er das Buch aus der Hand legt, und so ist auch der Studierende kein Studierender mehr, wenn er zum Beispiel auf die Straße geht, um gegen Sparmaßnahmen zu demonstrieren.

Doch lassen wir uns durch Partizipen nicht von Prinzipien ablenken. Sprachästhetik hin oder her, es stellt sich die Frage, ob bei der Feminisierung der Sprache überhaupt konsequent durchgegriffen wird. Denn wer genau hinsieht, muss feststellen, dass die weibliche Form längst nicht in allen Zusammenhängen angewendet wird. Kann man/frau das durchgehen lassen? Wo bleibt da die deutsche Gründlichkeit?

Als Bundeskanzler Schröder im Zusammenhang mit dem Thema Dauerarbeitslosigkeit den Begriff „Faulenzer“ aufbrachte, löste er damit einen Sturm der Entrüstung aus. Allerdings hat sich niemand darüber ereifert, dass er die „Faulenzerinnen“ unterschlagen hatte. Nicht mal in der „taz“ gab es Beiträge zur „FaulenzerInnen-Debatte“.

Hat der Bundestag sich schon jemals mit Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterziehern auseinander gesetzt? Interessiert es wirklich niemanden, wie viele Schwarzfahrerinnen und Schwarzfahrer jedes Jahr erwischt werden? Wo bleiben, wenn die Rede von Sozialschmarotzern und Leistungserschleichern ist, die Sozialschmarotzerinnen und Leistungserschleicherinnen?

Sie zu unterschlagen, bedeutet positive Diskriminierung. Und wollte man der Diskriminierung nicht gerade entgegentreten? Im Hinterzimmer einer zwielichtigen Kneipe im Hamburger Stadtteil St. Pauli ist man nach wie vor fest dazu entschlossen:

„Du meinst also, dass wir die Wei… äh, die Frauen in Zukunft immer mit nennen?“, fragt Ohrfeigen-Toni verunsichert. „Ganz genau! Ab sofort heißt es Leibwächterinnen und Leibwächter, Kurierinnen und Kuriere, Dealerinnen und Dealer.“ – „Hältst du das wirklich für eine gute Idee, Boss?“ – „Na klar! Meine Ideen sind immer gut! Und jetzt rufst du die Negerinnen und Neger von der neuen Schnellreinigung an und sagst, wenn sie nicht bis morgen zahlen, dann schicken wir ihnen unsere Schlägerinnen und Schläger auf den Hals!“


Und was ist mit den Ladendiebinnen?

(c) Bastian Sick 2004


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.


Mehr zur „geschlechtergerechten Sprache“:

Kolumne: Die Entmannung unserer Sprache

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Ein Kommentar

  1. Manfred Zindel

    Ich verliere mehr und mehr die Lust an der deutschen Sprache – sie wird immer umständlicher, ohne dass dadurch mehr Sinn oder wenigstens mehr Übersicht entstünde. Ganz im Gegenteil, der Stress beim Schreiben wird größer, wenn man sich ständig fragen muss, ob man irgendwen vergessen und sich deshalb schuldig gemacht hat. Überhaupt, die Fragewörter – müsste es für „irgendwen“ nicht eine weibliche Parallelform geben? Man macht ja so schnell etwas falsch! Vielleicht können wir ja aus irgendwelchen gruppentypischen Verständigungsweisen (Teenie-Sprache, Affektsprache) eine neue Sprache entwickeln oder uns mit Zeichen oder wortlosen Lauten verständigen. Es wäre nämlich Zeit für einen Neubeginn.

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