Freitag, 4. Oktober 2024

Das Ultra-Perfekt

Die gut informierte Hausfrau weiß: Herkömmliche Vergangenheitsformen sind wie herkömmliche Waschmittel. Sie wirken nicht immer zufrieden stellend und hinterlassen bisweilen graue Streifen. Daher gibt es das Ultra-Perfekt mit verbesserter Formel: Die noch vollendetere Vergangenheit der vollendeten Vergangenheit.

Dass sich die Zeiten ändern, ist bekannt. Viel interessanter ist es, wenn eine neue Zeit hinzukommt. Auch dies kann vorkommen, sogar in der angeblich so starren Grammatik.

Angenommen, unsere Sprache ist ein Warenhaus mit sechs unterschiedlichen Zeitniveaus. Das Erdgeschoss ist die Gegenwart, das darunter liegende Basement das Imperfekt. Der Fahrstuhl fährt hinauf zu Futur I und Futur II und hinab zu Perfekt und Plusquamperfekt. Die wichtigsten Sachen, die wir fürs tägliche Leben brauchen, finden wir im Erdgeschoss, im Basement und in den angrenzenden zwei Etagen. Nach ganz oben und ganz unten fahren wir seltener, dort befinden sich die Sonderabteilungen mit speziellen Artikeln wie Sportgeräten, Pelzmänteln und Möbeln.

Neben den bekannten Standard-Warenhäusern, deren Aufbau wir im Schulunterricht gelernt haben, gibt es nun auch solche, in denen der Fahrstuhl zwischen dem ersten und dem zweiten Tiefgeschoss auf einem zusätzlichen Niveau hält. Denn zwischen Perfekt und Plusquamperfekt hat sich in der Umgangssprache eine weitere Zeitform eingenistet: das Ultra-Perfekt.

Da wühlt sich Erika durch Berge von Unterwäsche, zaubert einen XXXL-Herrenschlüpfer hervor und sagt zu ihrer Freundin: „Guck mal, Heidi, ist das nicht was für deinen Werner?“ – „Lass mal“, sagt Heidi, „Unterhosen hab ich schon im Katalog bestellt gehabt.“ – „Ach ja“, sagt Erika, „das hab ich mir fast schon gedacht gehabt.“

Etwas später und ein paar Wühltische weiter sind die beiden beim Thema Gesundheit angelangt. „Mein Hausarzt hat ja bei mir so einen Spezialscheck durchgeführt gehabt“, sagt Erika, „seitdem esse ich wieder alles, was mir früher geschmeckt gehabt hat.“ – „Das mach ich auch“, sagt Heidi, „dass ich weniger Süßes essen soll, haben die mir im Krankenhaus ja nicht gesagt gehabt.“

Gedacht gehabt, gesagt gehabt – erst das Ultra-Perfekt macht das Perfekt wirklich perfekt. Lange wurde diese Zeitform als „Hausfrauen-Perfekt“ belächelt. Längst aber ist das Phänomen des verdoppelten Perfekts ein gesamtgesellschaftliches geworden. Erika und Heidi haben Kinder, die Melanie und Daniel heißen, in modernen Büros arbeiten und ihren Vorgesetzten erklären, dass sie die Kundenanfrage „bereits letzte Woche bearbeitet gehabt“ haben und gleich danach die Bestellung „rausgeschickt gehabt“ hätten. Und sie verschicken lustige kleine E-Mails an ihre Kollegen, in denen sie erzählen, wen sie alles am Wochenende „getroffen gehabt“ und welchen Film sie im Kino „gesehen gehabt“ haben.

Dank des Internets gelang es dem Ultra-Perfekt, die Schwelle vom gesprochenen Deutsch zum geschriebenen Deutsch zu überschreiten. Geben Sie mal „gemacht gehabt“ oder „gesagt gehabt“ in eine Suchmaschine ein, Sie werden staunen, wie viele Fundstellen Ihnen angezeigt werden.

Das Ultra-Perfekt lässt sich übrigens auch mit „sein“ bilden:

Schlesien ist nach dem Krieg verloren gegangen gewesen“, erklärt Opa Reimers an der Kaffeetafel, und sein Enkelsohn fragt sich, ob das doppelte Perfekt wohl bedeuten solle, dass man Schlesien inzwischen wiedergefunden habe.

„Wo hast du denn die frischen Brötchen her?“, fragt Melanie ihren Freund verwundert. Der erwidert grinsend: „Ich bin schnell zum Bäcker gelaufen gewesen, als du vorhin geduscht hast.

„Wo ist der Hund?“, ruft Werner durch den Flur, „haben wir den etwa bei deinen Eltern vergessen?“ – „Quatsch!“, sagt Heidi, „der ist doch hinten bei den Kindern gesessen gewesen.

Das letzte Beispiel hat es besonders in sich: Mit „sein“ werden eigentlich nur Verben der Bewegung konjugiert, und abgesehen von ein paar Beamten würde niemand „sitzen“ als Bewegung einstufen, daher müsste es richtig heißen: Der Hund hat hinten gesessen. Er „ist hinten gesessen gewesen“ ist somit ein doppelter Rittberger mit Überschlag, ein äußerst gewagter Hausfrauen-Looping.

Wie kommt es zu solchen falschen Zeitbildungen? Die Antwort liegt in der Natur der Umgangssprache. Tatsache ist, dass immer nur ein Teil dessen, was wir sagen, beim Adressaten ankommt. Nebengeräusche, undeutliche Artikulation und mangelnde Aufmerksamkeit sind nur einige der vielen Ursachen, die dazu führen, dass ein gewisser Teil der Informationen auf dem Weg vom Sender zum Empfänger verloren geht. Das wissen wir, und daher neigen wir im Alltag zur Verdoppelung; wir hängen den Wörtern überflüssige Silben an, stellen ihnen verstärkende Ausdrücke voran, nur um sicherzugehen, dass der Kern unserer Botschaft ankommt. Beim Ultra-Perfekt geschieht genau dasselbe: Ein nachgestelltes „gehabt“ oder „gewesen“ soll den Vergangenheitscharakter verstärken und die Abgeschlossenheit der Handlung hervorheben.

Ein in der Umgangssprache völlig normaler, alltäglicher Vorgang. Freilich dürfen wir nicht vergessen, die Verdoppelung wieder zurückzunehmen, wenn wir uns mit unseren Botschaften von der Umgangssprache lösen und zum Beispiel einen Brief schreiben oder uns in einer Talkshow vor einem Millionenpublikum äußern.

Analog zum Ultra-Perfekt gibt es natürlich auch das Ultra-Plusquamperfekt:

„Das hatten die damals so gemacht gehabt.“
„So was hatte ich mir auch schon gedacht gehabt“
„Du warst doch neben mir gesessen gewesen!“

Denkbar ist auch ein Ultra-Futur-II, wenn sich die Wirkung des herkömmlichen Futurs verbraucht „gehabt“ haben wird …

Die Warenhäuser der Zukunft werden noch manches Zwischenniveau einziehen, und die Kunden werden im Kaufrausch durch die Zeiten geschwebt gehabt haben werden worden  sein.


Das Imperfekt, auch Präteritum genannt, kennzeichnet die „unvollendete“ Vergangenheit und findet hauptsächlich im geschriebenen Deutsch Anwendung: Ich suchte dich; du sagtest nichts; er fuhr; sie kamen.

Weitaus größerer Beliebtheit erfreut sich das Perfekt, jene mit „haben“ oder „sein“ und zweitem Partizip gebildete Vergangenheitsform, denn sie kommt vornehmlich in der gesprochenen Sprache zum Einsatz: Ich habe dich gesucht; du hast nichts gesagt; er ist gefahren; sie sind gekommen. „Perfekt“ heißt diese Zeit, weil sie als „vollendet“ gilt. Das, was jemand „gemacht hat“, ist abgeschlossen.

Noch abgeschlossener ist es im Plusquamperfekt: Ich hatte dich gesucht; du hattest nichts gesagt; er war gefahren; sie waren gekommen. Das Plusquamperfekt beschreibt die Vergangenheit vor der Vergangenheit, die so genannte Vorvergangenheit: Bevor sie ins Bad ging, hatte sie die Wäsche aufgehängt. Nachdem er die  Nachbarn alarmiert hatte, rief er die Feuerwehr.

(c) Bastian Sick 2004


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

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