Abschied ist ein scharfes Schwert. Und Abschnitt ist ein hartes Brot. Der Rest ist Scherzl – oder Knust – oder Ränftl, oder wie man sonst noch zum Brotkanten sagt. Der Zwiebelfisch hat Brotreste gesammelt. Nun hat er so viel, dass er damit drei Jahre lang Enten füttern kann.
Brot ist eines der ältesten Kulturgüter überhaupt. Schon die alten Ägypter buken Brot und entdeckten das Geheimnis des Sauerteigs. Seitdem ist Brot zum Symbol für Speise schlechthin geworden. In der Bibel wird Brot als Gottesgeschenk beschrieben (himmlisches Manna), und seit dem letzten Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern einnahm, steht Brot für den Leib Christi.
So ist es nicht verwunderlich, dass das Brot auch in unserer Sprache einen besonderen Platz einnimmt. Es kommt zum Beispiel in Dutzenden von Redewendungen vor, man denke nur an „Trocken Brot macht Wangen rot“, „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ und „Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel piken“. Doch so richtig interessant wird das Brot für den Sprachforscher erst nach dem Verzehr, wenn von ihm nichts weiter übrig ist als ein – zumeist zähes oder hartes – Randstück (vom Brot natürlich, nicht vom Forscher). Dieses Randstück hat nämlich einen besonderen Namen. Einen Namen? Was red ich da! Dutzende Namen hat es!
Bereits im letzten Jahr begab ich mich auf die Suche nach regionalen Bezeichnungen für den Apfelrest und rief die Leser meiner „Zwiebelfisch“-Kolumne auf, mir ihren Ausdruck für den Apfelrest zu schicken. Mehr als 50 verschiedene Bezeichnungen kamen dabei zusammen. Einige Leser schickten unaufgefordert auch gleich das Wort für den Brotrest mit. Da ahnte ich, dass die Vielfalt der Brotrest-Wörter mindestens genauso groß sein müsse wie die der Apfelrest-Wörter.
Wenige Recherchen genügten, um festzustellen, dass der Brotkanten für Wortsammler ein gefundenes Fressen ist. In diversen Internet-Foren wird aufs Amüsanteste darüber diskutiert. Schulklassen haben sich im Rahmen von Projekten auf die Suche nach Brotrest-Wörtern begeben. Dialektforschende Institute haben Landkarten erstellt, auf denen die regionaltypischen Ausdrücke in sämtlichen Schreibweisen verzeichnet sind. Und immer wieder tauchen neue Varianten auf.
In Norddeutschland überwiegen „Kanten“ und „Knust“, von denen letzteres auf das mittelniederdeutsche Wort knūst zurückgeht, welches „knotiger Auswuchs“, „Knorren“ bedeutet. In Bayern herrschen „Ranftl“ (verwandt mit Rahmen und Rand) und „Scherzl“ vor, und in Sachsen sagt man „Rändl“ und „Ränftl“. In den rheinischen Regionen wird es besonders drollig, da hört man, wenn man nach dem Brotrest fragt, ein Knuspern und Knäuspern wie im Märchen: „Knörzchen“ wird er zum Beispiel in Hessen genannt, „Knieschen“ in Rheinland-Pfalz, „Knützchen“ am Niederrhein und „Knäbberchen“ im Siegerland. Auffällig ist, dass viele dieser Wörter mit „Kn“ beginnen. Der „Kn“-Anlaut ist in der deutschen Sprache bezeichnend für rundliche Gegenstände und Verdickungen. Knust, Knäppchen und Knörzchen gehören zur selben Wortfamilie wie Knauf, Knödel, Knobel, Knolle, Knopf, Knorpel, Knorren, Knospe, Knoten und Knubbel.
Mitunter wird ein Ausdruck sowohl für den Brotrest als auch für den Apfelrest verwendet, so wie beim Wort „Knust“, das im Allgemeinen den Brotrest bezeichnet, in Hamburg aber auch den Apfelrest. Bei anderen Begriffen (wie dem „Krüstchen“) herrscht Unklarheit darüber, ob damit nur der Brotrest oder nicht die gesamte Brotrinde gemeint ist.
Von der Wurst ist bekannt, dass sie zwei Enden hat. Das gilt aber nicht für die Wurst allein, sondern auch für das Brot. Während das erste Stück eines frischen Brotes meistens gern gegessen wird, bleibt das Endstück oft liegen. In einigen Gegenden wird daher zwischen einem „lachenden“ und einem „weinenden“ Ende unterschieden. So kennt man zum Beispiel im Münsterland die Ausdrücke „Lacheknäppchen“ und „Weineknäppchen“ für den vorderen und den hinteren Brotkanten, und im Oldenburger Raum den „Lacheknust“ und den „Brummeknust“.
Die Form des Brotrestes erinnert in gewisser Weise an ein anderes, ebenfalls sehr beliebtes „Endstück“: das menschliche Gesäß. Daher kursieren in einigen Regionen zärtlich-scherzhafte Ausdrücke für den Brotrest, die daneben auch für den Popo gebraucht werden, zum Beispiel „Föttchen“ im Rheinland, „Boppes“ im Westerwald und „Ärschl“ in Sachsen.
In diesem Zusammenhang darf eine Anekdote aus Österreich nicht fehlen. In Wien sagt man zum Brotrest „Buckl“ (= Buckel). Und zur Käsekrainer, der beliebten Bockwurst, sagt man auch „Eitrige“. Das klingt nicht besonders appetitlich, aber schmecken soll sie trotzdem. Zu Wurst und Brot gehört natürlich auch ein Bier, vorzugsweise aus der Dose. Ein sehr bekanntes Bier in Wien, das „Ottakringer“, benannt nach dem 16. Wiener Gemeindebezirk, wird so zum „sechzehner Blech“. Und so lautet die in bestem Wienerisch vorgetragene Bestellung am Wiener Würstelstand: „Heast, Oida, gib mir a Eitrige mit an Buckl und an sechzehner Blech!“ Für einen Nicht-Wiener eine mehr als rätselhafte Bestellung.
Eine häufig gestellte Frage lautet: Gibt es eine offizielle Bezeichnung für den Brotrest, die in allen Gegenden des deutschen Sprachraums gilt? Die Bäcker kennen das Wort „Anschnitt“, und daneben gibt es auch „Abschnitt“, beides sind Wörter der Hochsprache, doch sie sind nicht annähernd so klangvoll wie die mundartlichen Formen. Daher wird es ihnen kaum gelingen, die regionalen Varianten zu verdrängen, denn die sind bildhaft, liebevoll, ja geradezu zärtlich, so wie Knäppchen, Knärzi und Zipfeli. Das könnten auch Kosenamen für den geliebten Partner sein. Der wird ja gelegentlich auch „Lebensabschnittsgefährte“ genannt. Das klingt genauso unpersönlich wie Brotabschnitt. Wenn wir an unserem Lebensabschnittsgefährten knuspern, dann sagen wir doch lieber „mein Schatz“, „mein Herzi“, „mein süßes Mäuschen“ – so wie zum Brotrest „mein Scherzl“, „mein Knärzie“, „mein süßes Knäuschen“.
Region | Bezeichnung |
Schleswig-Holstein/Hamburg | Knust/Knuust/Knuß |
Niedersachsen/Bremen
|
Knust/Knuust/Knuuß/Knuz
Kanten Knuf Kniestchen/Knützchen Tippchen |
Mecklenburg-Vorpommern | Knust
Kanten |
Brandenburg/Berlin | Knust
Kanten Knippche Gombel/Gompel |
Nordrhein-Westfalen
Ostwestfalen
Münsterland
Ruhrgebiet
Niederrhein
Rheinland
Siegerland
Sauerland
|
Knust
Knapp/Knäppchen
Tip/Tipp
Kanten Kläppchen Knabbel Knietzchen Macke/Mäckchen/Mäcksken
Knabbel/Knäbbelken/Knäppken Knorke Knorpe Knüppchen/Knüppken Knut Utzelkäpp
Knetchen Knust/Knut/Knute/Knützchen/Knützje Kösken/Köschken
Kante/Kanten/Käntchen Knippchen Koosch/Köösche/Kööschje Krüppchen Kruste/Krüstchen Kürchen/Kürsjen/Kürstchen Föttchen (derb)
Knäbberchen/Knäppche
Knäppken Knüpp |
Hessen
Nordhessen
Südhessen
|
Knärzje/Knärtzsche
Krüstchen
Knorze/Knörzchen/Knerzchen/Knärnsche Knistchen/Knüstchen
Endstück Knorz/Knorzt/Knörzchen/Knörrnche Krestche/Krüstje |
Thüringen | Feeze/Fietze
Kanten Kniestchen/Kniezchen/Knützchen Kopp/Köpple/Küppchen/Küppel/Küppele Renftchen/Ränftchen |
Rheinland-Pfalz
|
Knärz/Knärzche/Knärzel(che)/ Knarzel(che)Knärzi/Knärzje/KnärzcheKnorze/KnörzjeKnirzel/Knirzche Knaus/Knause/Knäusche/Knaisel/ Kniesche Kneppche/Knippche/Kneppel Kruste/Krüstje Kruscht/Kreschtche/Krischtche/ Kurscht/Kürschtsche Korscht/Körschtche Karscht/Kärschtche/Kierschtche Schäbbelsche/Schäbbelchen Boppes (derb) |
Sachsen-Anhalt | Kanten
Rungsen |
Sachsen
|
Rändl/Rindl
Randkandn Ramftl/Rampftl/Rämpfdl/Ränftel/ Renft/Renftl/Renftel/Rempftel/Rempftl Rungsen Ärschl/Ärschel (derb) |
Saarland | Kniesje/Knieschen/Kneisje/Kneischen/ Knüsje/KnüschenKoscht/KorschtBäätsch |
Baden-Württemberg
Schwaben
Baden
|
Knaus/Knäusle/Knäuschen
Endle Eck/Ecke Giggl/Giggale Kante/Käntle Gnäusle/Knäusel/Kneisle/Knoisle Kneidel/Kneidele Knörzchen/Knörzerle/Knörzl/Knötzl/ Köschken Kruste Käppele/Küppele Ranka Riebel/Riabel/Riebele/Riebale Ränkel/Renkl/Rengele Rempfdle/Rempftchen/Renftl Rände Roiftle Storzl
Gnuscht Knecks Gnaisle/Kneisl Gniesle/Knissl/Knissli/Kniesli Knörbl Knippche Knerzl/Knärzl/Knärtzje Knork Knorst Knuusä/Knussel/Knäusli Awendel Ärschle (derb) Chnüssli Oschnitt Ranfte/Ränftl/Rämpfli Riebele Reifdle/Roiftle |
Bayern
Oberfranken
Mittelfranken
Unterfranken
Oberpfalz
Schwaben
|
Ranft/Ranfdl
Scherzl
Baggerla Gnaerzla/Gnerzla/Knätzla Koebbla/Köbberla/Kopperla/Kübbele/ Rankerl/Rankerla Rempfterla
Gnaerzla/Gnäddsla/Gnötzla/Knätzla Riefdla/Rieftla/Rieftle Rendala Sterzl/Stazzla
Kantn Knurz/Knorz/Gnurz/Gnorz/Knörzle Knärzje Knübbele/Knübberle Kipf/Kipfchen/Kipfle/Kipfla
Rampfla/Rampferl Randl Renkerl Sterzl
Giggl/Gickl/Giggel/Giggele/Giggerle Kickel/Kiekerle |
Schweiz
Thurgau
Basel
Aargau
Solothurn
Zürich
St. Gallen
Luzern
Bern
|
Aaschnitt
Aamündli Gupf
Grepfli/Gröpfli Muger/Mugerli Fuudi Gupf
Chnuschperli/Knusperli
Möckli
Ahau/Ahäuel/Ahäuli Bödel Güpfli Ribel Zipfeli
Chrüschtli
Mögerli/Muggerli
Mürgu/Mürgel Aahou Butti Chäppi |
Liechtenstein | Bödäli |
Österreich | Raftl
Scherzel/Scherzl/Scherzal/Scherzerl Schächzl Buckel/Buckl/Buggl |
Ostpreußen | Pend/Pendt/Pent
Schenutt/Schnutt |
Schlesien | Christel/Kristel/Kristl
Rampfla/Rampftla Ränftel Kantel Krunka |
Sudetenland | Klaaberranftle |
Rumänien
Siebenbürgen
Banat |
Dutz
Korscht |
Luxemburg | Knaus |
(c) Bastian Sick 2006
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.