Sonntag, 20. Oktober 2024

Die Sucht nach Synonymen

Unter Journalisten ist ein Sport besonders beliebt: die Jagd auf Ersatzwörter. Gesucht werden einprägsame Stellvertreter und dynamische Platzhalter, die dem Text eine Extraportion Curry verleihen. Die Verwendung von Synonymen ist in manchen Ressorts so unentbehrlich wie der Reifenwechsel in der Formel 1.

Seltsamerweise weiß jedes Kind, dass Michael Schumacher aus Kerpen stammt und Jan Ullrich in Rostock geboren wurde. Seltsamerweise weiß kaum jemand, wo Angela Merkel, Edmund Stoiber und Gerhard Schröder das Licht der Welt erblickten oder aufgewachsen sind. Haben Profisportler einen höheren Bekanntheitsgrad als Spitzenpolitiker? Das kann nicht sein, wie Umfragen bestätigen. Immerhin geben sich die PR-Berater von Merkel, Stoiber und Schröder alle Mühe, ihre „Schützlinge“ bekannt und populär zu machen, und wenn man sich die Nachrichten anschaut, dann sieht man Schröder, Stoiber und Merkel auch immer als Erstes; Schumacher und Ullrich kommen erst ganz am Ende, vor dem Wetter.

Im Journalismus gibt es viele Absprachen und Regeln. Eine davon scheint zu sein, dass man den Namen der Person, um die es gerade geht, erst dann ein zweites Mal erwähnen darf, wenn man zwischendurch mindestens zwei Synonyme verwendet hat. Dies gilt besonders im Sport. So lesen wir in Texten über Michael Schumacher regelmäßig wiederkehrende Ersatz-Bezeichnungen wie „der Ferrari-Pilot“, „der sechsmalige Formel-1-Weltmeister“, „der 35-Jährige“ und eben „der Kerpener“. Steffi Graf war immer „die Brühlerin“ und Boris Becker „der Leimener“. Kein Mensch hatte je zuvor von Leimen oder Brühl gehört, aber dank ihres häufigen Gebrauchs als Platzhalter haben sich diese Ortschaften dauerhaft ins öffentliche Bewusstsein eingebrannt.

Mit Sportler-Synonymen ließe sich manch unterhaltsames Quiz bestreiten: Wer ist „der Bayern-Kapitän“, „der Rekord-Keeper“ und „der Torwart-Titan“? Natürlich: Oliver „Olli“ Kahn. Und wer ist „der Überflieger“, „der Hinterzartener“ und „der Vierfach-Sieger der Vierschanzentournee“? Richtig: Sven „Hanni“ Hannawald. Aber wer ist „der Oberaudorfer“, „der zweimalige Bayern-Sieger“, und der „Bambi-Preisträger 1993“? Das wissen Sie nicht? Edmund „Eddy“ Stoiber! Diesen Mann hätten Sie fast zum Bundeskanzler gemacht, und Sie wissen nicht mal, dass er aus Oberaudorf stammt!

Der Test bestätigt: Der Sport kommt ohne Antonomasien (denn so lautet der Fachterminus für das Ersetzen von Eigennamen durch ein besonderes Merkmal) nicht aus und macht sie notfalls so berühmt wie den Namensträger selbst. Was sich hingegen in Sporttexten nur sehr begrenzt findet, obwohl seit vielen Jahrhunderten fester Bestandteil der deutschen Sprache, das sind Personalpronomen wie „er“ und „sie“. Angesichts ihrer sparsamen Verwendung muss man sich die Frage stellen, ob Pronomen unsportlich sind? Ein Beispiel aus einer Meldung über Franziska von Almsick: Statt „Am Samstag wird sie im Rahmen des ZDF- Sportstudios ab 22.25 Uhr die Paarungen für die zweite Hauptrunde im DFB- Vereinspokal auslosen“ steht dort „die fünffache Goldmedaillen-Gewinnerin der Europameisterschaften“. Das ist zwar nicht kürzer, enthält aber einen weiteren „hammerharten Fakt“ und hilft, ein vermeintlich weiches, kraftloses Pronomen zu vermeiden.

Das zwanghafte Bemühen, Pronomen zu umgehen, fördert nicht unbedingt die Verständlichkeit der Texte. Es kann passieren, dass der Leser das Subjekt aus den Augen verliert und gar nicht mehr weiß, von wem nun eigentlich die Rede ist:
„Coulibaly geht mir in die Beine rein, trifft mich an der Kniescheibe“, beschreibt der Dortmunder Keeper die dramatische Szene. „Ich verspüre einen großen Schmerz und habe im Affekt reagiert“, fügt der Nationaltorwart hinzu.
Wer nicht weiß, dass Jens Lehmann Dortmunder und Nationaltorwart in einer Person ist, könnte annehmen, dass sich hier noch ein anderer Torwart ins Gespräch eingeschaltet hat.

Unsportlich ist auf jeden Fall auch die „ungetunte“ Sportsparte. Ein Ersatzwort für Schumacher findet man nämlich ausgesprochen selten: Rennfahrer. Pilot, ja; Weltmeister, immerzu; doch Rennfahrer? Steffi Graf wurde auch selten „Tennisspielerin“ genannt, obwohl sie vor allem eines toll konnte: Tennis spielen. Stattdessen wurde sie so oft „Tennis-Star“ tituliert, dass der ursprüngliche Glamour des Wortes „Star“ irgendwann verblasste. Nach der tausendsten Wiederholung bleibt in der Wahrnehmung des Lesers nur noch der matte Glanz eines Blechsterns.

Nehmen wir mal an, die Politikredaktion würde derselben Synonymitis verfallen: Namen würden plötzlich selten, Pronomen tabu und Antonomasien allmächtig; dann hörten sich Berichte über den Bundeskanzler womöglich so an:

Zum Auftakt der Konferenz stellte sich der 60-jährige SPD-Star den Fragen der Presse. „Ich bin sehr zuversichtlich“, so der Hannoveraner, „dass das, was wir uns vorgenommen haben, in seiner Machbarkeit auch umsetzbar ist.“ Der Profi-Politiker, der zurzeit mit einer Reform-Verstauchung zu kämpfen hat, wird auch 2006 wieder an den Start gehen. „Joschka und ich sind uns einig, und Doris ist auch dafür“, verriet der zweimalige Wahlgewinner von 1998 und 2002.

Die Suche (oder die Sucht) nach Ersatzwörtern beherrscht aber nicht nur den Sport allein, auch im Wirtschaftsjournalismus geht man immer wieder gerne auf die Pirsch. Folgender Dialog aus einer Wirtschaftsredaktion ist überliefert:

„He, sag mal schnell ein anderes Wort für Frankfurt!“
„Mainmetropole!“
„Mainmetropole hab‘ ich schon. Sag noch mal was anderes.“
„Bankenstadt“
„Steht bereits in der Bildunterschrift. Weißt du nicht noch was?“
„Wie wär’s mit Mainhattan?“
„Ja, das ist hübsch, aber ,Main‘ hatte ich doch oben schon.“
„Dann schreibst du oben ,Hessenmetropole‘ und unten Mainhattan.“
„Hessenmetropole? Hört sich komisch an. Klingt das nicht irgendwie… provinziell?“
„Wenn du schon mal in Frankfurt gewesen wärst, dann wüsstest du: Frankfurt ist provinziell!“
„Also schön, dann eben Hessenmetropole. Klingt trotzdem komisch. Wie nackter Arsch im Persianer.“

Kennen Sie den Unterschied zwischen dem „Glücksrad“ und einer Nachrichtenredaktion? Beim „Glücksrad“ werden immer nur einzelne Vokale gekauft; in der Redaktion hält man sich mit solchem Kleckerkram nicht auf, da heißt es gleich: „Ich kaufe ein Synonym!“

 (c) Bastian Sick 2003


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

 

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