Sonntag, 20. Oktober 2024

Als ich noch der Klasse Sprecher war

Wieso wird der Stich einer Biene nicht Bienestich genannt? Und warum spricht man vom Gitarrensolo, wenn doch nur eine einzelne Gitarre zu hören ist? Die deutsche Sprache hält immer ein paar Buchstaben parat, um Fugen zwischen Wörtern zu füllen. Einige verzichten jedoch auf Fugenzeichen und verwenden lieber Fuge-Zeichen.

Auf einem jener Reklameblätter, die trotz „Keine Werbung!“-Aufklebers immer wieder in meinem Briefkasten landen, wurden unlängst „gebrauchte Oberklassewagen zu günstigen Preisen“ angepriesen, und das machte mich stutzig. Als ich zehn oder elf war, wurde ich mal zum Sprecher der Klasse gewählt, das nannte man damals Klassensprecher. Mit einem „n“ in der Mitte. Dieses „n“ kennzeichnete nicht etwa einen Plural, denn ich war ja nicht Sprecher mehrerer Klassen, sondern nur einer einzigen Klasse. Trotzdem hieß es nicht Klassesprecher, obwohl ich zweifellos ein klasse Sprecher war.

Es gibt in der deutschen Sprache nicht nur ein Fugen-s, so wie beim Eignungstest und beim Zeitungsbericht, sondern auch ein sogenanntes Fugen-n. Dieses findet man zum Beispiel bei Zusammensetzungen mit weiblichen Hauptwörtern, die auf ein unbetontes „e“ auslauten: Das Klappern der Mühle am rauschenden Bach wird zum Mühlenklappern, das Spiel der Miene zum Mienenspiel, das Zirpen der Grille zum Grillenzirpen, die Linde am Brunnen vor dem Tore zum Lindenbaum. Und ein Wagen der Oberklasse müsste demnach zum Oberklassenwagen werden. Die daraufhin von mir durchgeführte Blitzrecherche in unserem elektronischen Zeitungsarchiv kam allerdings zu einem anderen Ergebnis: Die Schreibweise „Oberklasse-Wagen“ ist in der Presse sehr viel häufiger anzutreffen als „Oberklassen-Wagen“ oder „Oberklassenwagen“.

Hersteller von Medikamenten kann man zusammenfassend Medikamentenhersteller nennen. Manchmal werden sie allerdings auch unter der Bezeichnung „Medikamentehersteller“ geführt, besonders wenn vor den Medikamenten noch eine Bestimmung steht, wie zum Beispiel das Wort Aids. Wer Aidsmedikamente herstellt, ist einigen Presseberichten und Infobroschüren zufolge ein „Aids-Medikamente-Hersteller“.

Offenbar haben einige Menschen heutzutage eine Scheu davor, die Fuge zwischen den Wörtern mit einem „n“ zu füllen. Stattdessen greifen sie lieber zum Bindestrich – einer halb-herzigen Verbindung, bei der eine wund-ähnliche Nahtstelle bleibt, die sich vermeiden ließe, wenn man herzhaft Fugenkitt auftrüge und ein „n“ dazwischensetzte. Doch mit dem Wort „Aidsmedikamentenhersteller“ sind viele vermutlich überfordert.

Der Duden führt in seiner Erklärung zu den Fugenzeichen das Beispiel „Sonnenstrahl“ an und schreibt dazu, dass dies auf einen alten Genitiv zurückgehe: der Sonnen Strahl, so hat es früher mal geheißen, wie auch des Hirten Stab, daher Hirtenstab – und nicht Hirtestab. Auch das Wort „Klasse“ ist sehr alt, es wurde im 16. Jahrhundert aus dem Lateinischen (classis) entlehnt. Das Fugen-n beim Klassenprimus und beim Klassenzimmer ließe sich demnach mit dem alten Genitiv des Wortes „Klasse“ begründen – der Klassen Zimmer. Vielleicht wurde es aber auch einfach nur in Analogie zum Sonnenstrahl und zum Hirtenstab eingefügt.

Freilich sprechen wir heute nicht mehr so wie im 16. Jahrhundert. Wir sprechen ja nicht einmal mehr so, wie wir es noch vor 20 Jahren taten. Sprache verändert sich, und manches, was nicht mehr gebraucht wird, verschwindet. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch muss auch die Frage gestattet sein, ob die neue Lösung tatsächlich schöner ist als die alte. Im Falle des Oberklasse-Wagens sprechen die anderen Zusammensetzungen, die sich mit dem Wort Klasse bilden lassen, eigentlich dagegen. Oder werden die Klassenbücher von heute – so es sie noch gibt – bereits nur noch Klasse-Bücher genannt? Sind die Schüler der Oberstufe keine Oberstufenschüler mehr, sondern nur noch Oberstufe-Schüler? Verzehren sie heute keine Pausenbrote mehr, sondern nur noch Pause-Brote? Das wäre bedauerlich. Denn dann gäbe es an den Universitäten auch bald keinen Breitensport mehr, sondern nur noch Breite-Sport, und wer wollte da noch mitmachen, das klingt ja wie ein Fitnessangebot für Menschen, die in die Breite gegangen sind.

Auch bei der Kohle kommt das Fugen-n aus der Mode. Während ältere Zusammensetzungen ausnahmslos mit „Kohlen-“ gebildet werden (Kohlenkeller, Kohlenofen, Kohlenstaub, Kohlenstoff), fällt das Fugen-n bei jüngeren Zusammensetzungen mitunter weg: Kohlepapier, Kohleimport, Kohlekraftwerk. Es scheint hinter der Kohle also nicht mehr notwendig zu sein. Ernährungsbewusste Menschen stellen mir häufig die Frage, ob es denn nun Kohlenhydrate oder Kohlehydrate heiße. Zu Zeiten von Jacob und Wilhelm Grimm wäre die Antwort eindeutig gewesen, denn in ihrem Wörterbuch findet man nur Kohlenzusammensetzungen und keine Kohlezusammensetzungen. Doch in heutigen Wörterbüchern sind neben Kohlenhydraten auch Kohlehydrate enthalten. Beides ist demnach richtig.

Manchmal wird das Fugen-n vernachlässigt, manchmal wird es aber auch überstrapaziert. Auf diese Weise entstehen Folgenkosten, wo Folgekosten schon schmerzlich genug sind, und Speisenkammern, wo Speisekammern genügen. Und ob nun „Speisekarte“ oder „Speisenkarte“ richtig ist, darüber wird noch gestritten (der Duden lässt beides zu) – doch außer Zweifel steht, dass der Instrumentenkoffer als „Instrumentekoffer“ einen unsoliden Eindruck macht. Und der „spezielle Textiltapete-Kleister“, den ein Händler führt, hält vermutlich nicht besser als ganz normaler Tapetenkleister. Wenn Unbefugte sich an der Sprache zu schaffen machen und dabei unverfugte Lücken schaffen, dann entsteht Unfug.

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.

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2 Kommentare

  1. … oder wie mein Vater (Ausländer) immer scherzhaft zu sagen pflegte: „Semmelnknödeln!“

    • Gerhard Hergesell

      Diese Wortbildung kann man schon bei Karl Valentin nachlesen (und -hören), mit deutlicher Betonung der beiden „n“.

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