Ob Übergewicht, mangelndes Denkvermögen oder ein schlechtes Abschneiden im Wettkampf: Keine Wahrheit muss so hart klingen, wie sie ist. Alles lässt sich mit Worten milder machen, weicher zeichnen, schöner färben. Die Rede ist von Euphemismen. Sie beschönigen Misserfolge, verhüllen Unangenehmes, verschleiern Tatsachen. Manchmal regen sie uns auf, manchmal bringen sie uns auch einfach nur zum Lachen.
Bei Tante Karlas Geburtstagskränzchen werden einige alte Fotos herumgereicht. „Ach sieh nur, die Mizzie!“, ruft Tante Karla entzückt und fügt mit einem leisen Seufzer hinzu: „Die Gute ist ja im letzten Jahr leider von uns gegangen.“ Das hört ihr jüngster Enkel Paul, der im Sommer in die Schule kommt, und fragt: „Wohin ist sie denn gegangen?“ Tante Karla scheint die Frage nicht gleich zu verstehen: „Wie bitte?“ – „Du hast doch gesagt, dass Tante Mizzie weggegangen ist. Wohin denn?“, wiederholt Paul seine Frage. Tante Karla lächelt verlegen und erwidert: „Na, in den Himmel. Wohin man eben so geht, wenn man verschieden ist.“ Diese Auskunft scheint Paul ein weiteres Rätsel aufzugeben, denn er fragte: „Was war denn an Tante Mizzie so anders?“ Da beugt sich Onkel Friedrich vor und raunt seinem Enkel zu: „Deine Oma will sagen, dass die Mizzie gestorben ist. Von uns gehen, verscheiden, das sind nur andere Wörter für sterben, die Löffel abgeben, in die ewigen Jagdgründe eingehen, den Abgang machen, über den Jordan gehen, verstehst du?“ Tante Karla wirft ihrem Mann einen missbilligenden Blick zu: „Friedrich, ich bitte dich!“ – „Ist doch wahr!“, brummt Onkel Friedrich, „da kann der Kleine gleich mal lernen, was Euphemismen sind!“ Paul sieht seinen Großvater neugierig an: „Was sind … Äufismen?“ – „Eu-phe-mis-men“, wiederholt Onkel Friedrich gedehnt und erklärt: „Das sind Schönfärbereien. Wörter, mit denen man etwas auf mildere Weise zum Ausdruck bringt, weil das eigentliche Wort zu hart, zu direkt oder gar verletztend klingt. Nehmen wir mal Tante Mizzie, von der wird immer gesagt, dass sie recht korpulent war. Korpulent ist ein Euphemismus für übergewichtig. Tatsächlich war Mizzie nämlich dick wie ein Wal. Das sagte man aber nicht, wenn man über sie sprach. Da sagte man lieber, sie sei korpulent, kräftig oder wohlgenährt.“ – „Das sagt man übrigens auch heute noch“, stellt Tante Frida klar. „Denn es gehört sich nach wie vor nicht, von einem korpulenten Menschen als dick zu sprechen.“ – „Da hat deine Oma natürlich recht“, sagt Onkel Friedrich zu Paul. „Wie so oft. Es ist sinnlos, ihr zu widersprechen; darum nenne ich sie auch die Regierung. Das ist übrigens auch ein Euphemismus.“
Das Wort Euphemismus ist eine Ableitung vom Griechischen „euphemia“, einer Zusammensetzung aus „phéme“ (= Rede) und „eû“ (= „gut“), was so viel bedeutet wie „etwas auf schöne Weise sagen“. Der deutsche Fachbegriff lautet Hüllwort. In älteren Wörterbüchern findet man auch noch die Bezeichnungen Glimpfwort und Hehlwort. Meistens aber wird Euphemismus mit Beschönigung, Schönfärberei, Verbrämung oder Verschleierung übersetzt. Euphemismen sind die Wort-Joker, die uns davor bewahren, gesellschaftliche Tabus zu brechen oder die Gefühle anderer zu verletzen.
Euphemismen können in den unterschiedlichsten Formen auftreten: als Verniedlichung („Käffchen“ für „Kaffee“), als Wortaus der Babysprache („Kaka“ für „Kot“), als Fremdwort („Battle“ für „Wettkampf“), als Wort der gehobenen Sprache („Dame“ für „Frau“) oder als scherzhaftes Wort der Umgangssprache („Brötchengeber“ für „Arbeitgeber“).
Ganz oben auf der Einsatzliste der Euphemismen rangieren tabuisierte Themen wie Sexualität und Tod. Für das Wort „sterben“ gibt es mindestens zwei Dutzend Euphemismen. Zu den geläufigsten zählen „einschlafen“ und „entschlafen“. Indem man den Tod mit dem Schlaf gleichsetzt, nimmt man ihm etwas von seiner Endgültigkeit. Hier wird der mildernde Aspekt der Euphemisierung besonders deutlich. Ältere Hüllwörter für „sterben“ sind „heimgehen“, „hinscheiden“ und „abberufen werden“.
Eine tief verwurzelte Scham hat dazu geführt, dass wir für bestimmte Körperteile (insbesondere in den „unteren Regionen“) kein „normales“ deutsches Wort haben. Entweder ist es lateinisch oder umgangssprachlich. In jedem Fall ist es verhüllend.
Für die angeblich „schönste Sache der Welt“ haben wir entsetzlich nüchterne Wörter wie Beischlaf, Geschlechtsverkehr, Geschlechtsakt, Vereinigung oder Vollzug, die so klingen, als seien sie der Behördensprache entnommen. „Liebesspiel“ oder „Liebesakt“ sind bereits beschönigende Formen, denn Liebe ist dabei längst nicht immer im Spiel. „Lustspiel“ wäre vielleicht passender, wenn der Begriff nicht schon anderweitig besetzt wäre.
Der wohl berühmteste Euphemismus aus der Modesprache ist das Wort Büstenhalter, der eigentlich Busenhalter oder Brusthalter heißen müsste. Die Büste ist eine künstlerische Nachbildung der menschlichen Kopfpartie, die meistens oberhalb der Brustpartie endet. Der Büstenhalter hält also etwas, das gar nicht zur Büste gehört. Die Abkürzung BH ist wiederum eine Verhüllung des Wortes Büstenhalter, denn auch Abkürzungen können als Euphemismen gebraucht werden.
Ein weiteres Gebiet, auf dem Euphemismen im Dauereinsatz sind, ist der menschliche Makel – oder das, was als solcher empfunden wird: Krankheit, Übergewicht, Haarausfall, Alter, Armut, Schwäche und jede Form von körperlicher und geistiger Beeinträchtigung.
Der gekonnte Umgang mit Euphemismen setzt natürlich ein gewisses Maß an Takt und ein entwickeltes Stilbewusstsein voraus. Damit wird man nicht geboren; man muss es sich aneignen. Schritt für Schritt lernen wir, dass Menschen nicht dick, sondern „vollschlank“, „beleibt“ oder „füllig“ sind, dass Oma und Opa nicht alt, sondern „ältere Menschen“ sind, dass es in Deutschland keinen Armen gibt, sondern höchstens „sozial Benachteiligte“, und dass das verhaltensgestörte Nachbarskind bestenfalls „sozial auffällig“ genannt werden darf.
Einer meiner Freunde, der Medizin studiert hat, wusste von einem Arzt zu berichten, der Patientenakten gelegentlich mit dem Kürzel AP versah. Als er fragte, wofür das stehe, erklärte ihm der Arzt, es sei die Abkürzung für „akzentuierte Persönlichkeit“. Andere Ärzte würden auch das Kürzel VK verwenden, das sei weniger verhüllend und stehe für „Vollklatsche“. Unterm Strich käme es aufs Gleiche hinaus.
Während die „akzentierte Persönlichkeit“ ein Euphemismus ist, ist die Bezeichnung „Vollklatsche“ das Gegenteil: ein Dysphemismus. Dysphemismen wirken nicht verhüllend, sondern abwertend. Das Bezeichnete wird negativ besetzt: „Glotze“ statt „Fernsehgerät“, „Schrotthaufen“ statt „Auto“, „hirnverbrannt“ statt „unvernünftig“. Genau wie die Euphemismen gelten auch die Dysphemismen als rhetorische Figuren.
Neben dem Mildern und Beschönigen haben Euphemismen noch weitere Funktionen: Sie können der Täuschung dienen, der Verschleierung oder der gezielten Erzeugung von Aufmerksamkeit. In dieser Weise werden sie bevorzugt in der Politik eingesetzt, denn Politik ist die Kunst, etwas zu sagen, das gut klingt und vom Eigentlichen ablenkt. Die Politik beschäftigt eigens Sprachberater (sogenannte Spin Doctors), die darauf spezialisiert sind, unangenehme Tatsachen oder unpopuläre Maßnahmen so darzustellen, dass sie sich besser verkaufen lassen.
Die Liste der politischen Euphemismen ist lang und zeugt ebenso vom rhetorischen Geschick wie von der moralischen Elastizität ihrer Erfinder. Ein bekanntes Beispiel ist die „Freisetzung von Arbeitskräften“, ein Euphemismus für „Entlassungen“. Die Silbe „frei“ ist derart positiv besetzt, dass sich damit jede noch so schlechte Nachricht verkaufen lässt. Eine ähnlich raffinierte Erfindung ist das Wort „Nullwachstum“, ein Euphemismus für Stillstand, der aller Null zum Trotz nach Wachstum klingt.
Anfang des Jahrtausends kam ein Wort in Mode, das bis dahin nur in der Wissenschaftssprache zu Hause war: „suboptimal“ – als freundliche Verbrämung für „misslungen“ oder „schlecht“.
Einer der umstrittensten Euphemismen der jüngsten Geschichte ist der „Kollateralschaden“, eine Übernahme aus dem amerikanischen Militärjargon, wo „collateral damage“ eine Umschreibung für unbeabsichtigte zivile Opfer während eines Kampfeinsatzes ist. Der Begriff kam während des Nato-Einsatzes im Kosovokrieg auf und wurde 1999 zum „Unwort des Jahres“ gekürt.
Über Euphemismen ist viel geforscht und geschrieben worden, der Platz reicht hier nicht aus, alle Aspekte dieses Sprachphänomens zu beleuchten. Nur eines noch: Neben der Schönfärberei mit Worten kennt die Sprachwissenschaft auch eine orthografische Schönfärberei. Mit ihr haben wir es immer dann zu tun, wenn durch Manipulation der Rechtschreibung ein Wort schöner oder interessanter erscheinen soll. Das ist zum Beispiel bei Zusammensetzungen mit einem Binnengroßbuchstaben der Fall: PartyService, FilmWerkstatt, HafenCity.
Als Rechtschreib-Euphemismen gelten auch Lehnwörter, die nicht nach deutschen Regeln geschrieben werden: „Cosmetic“ statt „Kosmetik“, „Contactlinsen“ statt „Kontaktlinsen“, „Centrum“ statt „Zentrum“. Bei so manchem Wort aus der Werbung (wie „Akatienhoning“, „Crème frech“ oder „Fußphlege“) bleibt allerdings unklar, ob es sich um bewusste „Schönerschreibung“ handelt oder um eine gewöhnliche Rechtschreibpanne.
An Tante Karlas Kaffeetafel wird gerade ein Foto herumgereicht, auf dem Onkel Friedrich als junger Mann in einer Gruppe von Studenten zu sehen ist. „Das da bin ich,“ sagt er zu seinem Enkel. „Und der hier, das ist Helmut, wir waren die dicksten Freunde!“ Paul zeigt, was er heute gelernt hat, und berichtigt seinen Großvater: „Dick sagt man nicht! Du meinst, ihr wart die korpulentesten Freunde.“
Tabelle: 75 Euphemismen aus Alltagssprache, Wirtschaft und Politik
Weiteres zum Thema:
Wie man stilistisch sicher zur Toilette gelangt: Einsatz für Agent 00 („Dativ“-Band 5)
Verhüllende Sprache in der Werbung: Lingua cosmetica („Dativ“-Band 5)
Zwiebelfisch-Abc: verstorben/gestorben
Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks zwölftem Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod – Folge 6“ erschienen.
Das Wort „Euphem…“ stammt wie gesagt von den alten Griechen; ihre bekannteste Umschreibung war Pontos euxeinos (= wohlgesinntes, freundliches Meer) für das oft, auch heute noch, sehr stürmische Schwarze Meer; sie glaubten allerdings auch, dessen Götter durch den guten Namen freundlich stimmen zu können.
„moralischen Elastizität“ , sehr schöner Euphismus 🙂
Der Busen braucht keinen ‚Busenhalter‘, denn der Busen ist der Raum zwischen den Brüsten (lat. mammae) einer Frau.
Oder – besonders schön – zwischen Butjadingen und Rüstringen!
Eine Lehrerin konnte damals ein etwas unbequemeres Kind auch schon einmal als „verhaltensoriginell“ bezeichnen.
Ein Versicherungsvertreter beim Anpreisen einer Lebensversicherung: „Wenn Sie dann vom Ableben Gebrauch machen.“
Wenn man eine Eigenschaft verschwurbelt umschreibt, weist man damit die beschriebene Person(en) aber *vorsätzlich* nochmal auf ihre Sonderstellung hin, würgt es sozusagen also rein. Euphemismen können somit auch Dysphemismen sein, teils gar beleidigend.
Nebst Euphemismen gäbe es da auch noch die Sache mit dem Partizip. Wann immer die Universitätsverwaltung von „Studierenden“ redet, unterstellt sie den hier ca. 30000 Angesprochenen ja untertönig, keine richtigen Studenten zu sein.
(Übrigens: „suboptimal“ ist nicht gleichzusetzen mit „misslungen“. Der Wirkungsgrad eines PKW-Benzinmotors wird mit 30..35% beziffert. Das ist im Vergleich zu einem Fahrrad zwar eindeutig nicht optimal, aber als misslungen kann man es auch nicht bezeichnen, sonst gäbe es keine rund 30 Millionen Benziner in Deutschland.)
Wo soll denn der Unterschied zwischen einem „Studierenden“ und einem „(richtigen) Studenten“ liegen?
Sehr geehrte Damen und Herren,
es sollte meiner Meinung nach eine Formulierung stärler beachtet werden, die als „Unwort des Jahres“ gelten kann. Oft ist nämlich in Verbindung mit dem „VW-Skandal“ von „Schummelelektronik“ die Rede. Hier wird bagatellisiert. Es handelt sich in Wahrheit um höchst kriminelle Aktivitäten! „Schummeln“ ist etwas anderes.
Freundliche Grüße
Rudolf Hörl, OStR
Mancher unliebsame Tatbestand lässt sich auch schönfärben durch doppelte Verneinung einer negativen Eigenschaft; denn obwohl die doppelte Verneinung logisch gesehen eine (verstärkte) Bejahung darstellt, wird sie (ohne nachzudenken) gern als verstärkte Verneinung aufgefasst.
Über die direkte Aussage „Ihr Kind ist strohdumm“ sind wohl die meisten Eltern empört, fühlen sich hingegen geschmeichelt bei der verklausulierten Formulierung „Ihr Kind ist gar nicht so undumm“, obwohl dies nichts Anderes bedeutet.