Sonntag, 20. Oktober 2024

Was meint eigentlich Halloween?

Groß ist das Gejammer über Anglizismen. Wörter wie „Sale“, „Flatrate“ und „Coffee to go“ sind kaum noch aus unserer Sprache wegzudenken.  Es gibt aber noch ganz andere Anglizismen, solche, die man nicht auf den ersten Blick erkennt. Frühe Vögel zum Beispiel. Oder Dinge, die eine Meinung haben. Kürbisse mit Fratzen. Und Rehe mit Hirschgeweih.

Anglizismen sind längst nicht nur Wörter, die eins zu eins aus dem Englischen übernommen wurden. Es sind darüber hinaus sprachliche Muster, deren englische Herkunft auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen ist. Eine Redewendung wie „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ zum Beispiel ist ein Anglizismus. Sie entstand durch Übersetzung aus dem Englischen („The early bird catches the worm“) und kommt nun als scheinbar deutsche Weisheit daher. Die deutsche Entsprechung lautet nämlich ganz anders: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Da heute aber kaum noch jemand sein Getreide zur Mühle bringt und da überhaupt nur noch die wenigsten den Unterschied zwischen „mahlen“ und „malen“ kennen, gerät die deutsche Redewendung langsam in Vergessenheit. Unter Vögeln und Würmern kann sich selbst der naturentwöhnte  Stadtmensch noch etwas vorstellen.

Auch die immer häufiger zu hörende Phrase „das meint“ ist ein Anglizismus. Zitat aus einer Veröffentlichung des Goethe-Instituts: „Die Fort- und Weiterbildung der Älteren, und das meint bereits die über Vierzigjährigen, wird sehr stark vernachlässigt.“ Vorbild für diese Konstruktion ist das englische Idiom „that means“, und das bedeutet „das bedeutet“. Worte, Zeichen und Ereignisse haben keine Meinung, sondern eine Bedeutung. Wer „that means“ mit „das meint“ übersetzt, ist sich des Bedeutungsunterschiedes zwischen „Bedeutung“ (engl. „meaning“) und „Meinung“ (engl. „opinion“) offenbar nicht bewusst. „Kinderarmut, das meint laut Deutschem Kinderschutzbund ein Leben auf Sozialhilfe-Niveau“, meinte die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ) in einem Artikel, der sogar noch mit „Armut meint …“ überschrieben war. Dass Armut zwar Ursachen und Auswirkungen, aber keine Meinung haben kann, weil sie kein denkendes Wesen ist, ist offenbar niemandem in den Sinn gekommen. Den WAZ-Redakteuren erschien die Phrase offenbar sinnvoll, wenn sie in ihren Augen nicht gar „Sinn machte“.

In Wirtschaft und Politik wird immer seltener der Blick in die Zukunft gewagt. Die meisten Voraussagen reichen nur noch bis zum „Ende des Tages“. So warf der Vorstandsvorsitzende eines Reifenherstellers der Gewerkschaft vor, sie würde ihn zum Buhmann machen, „um sich am Ende des Tages von der Globalisierung abzukapseln“. Auch Edmund Stoiber fürchtet das Ende des Tages: „Wenn wir dieses Wahlergebnis nicht sorgfältigst analysieren“, sprach er nach der Bundestagswahl 2000 vor Parteimitgliedern, „dann besteht die große Gefahr, dass sich die Union, ihre Anhänger, ihre Wähler, ihre aktiven Mitglieder vor Ort und am Ende des Tages ganz Deutschland daran gewöhnt, dass wir immer Wahlergebnisse irgendwo in den Dreißigern bekommen.“ Die englische Metapher „at the end of the day“ bedeutet „letzten Endes“, „schließlich“, „am Ende“ oder „unterm Strich“. Für die meisten Deutschen ist das „Ende des Tages“ aber keine rhetorische Figur, sondern nichts anderes als der Abend. Die Verwendung im Sinne von „schließlich“ ist ein Anglizismus. Die meisten heutigen Anglizismen sind in Wahrheit natürlich Amerikanismen, da wir sie nicht aus dem britischen, sondern aus dem amerikanischen Englisch übernommen haben. Und nicht nur Sprachwissenschaftler registrieren Amerikanismen. Auch Landwirte, Förster und Biologielehrer müssen sich mit ihnen auseinandersetzen.

Einer der bekanntesten Amerikanismen ist Walt Disneys Bambi. Wir Deutschsprachigen halten Bambi alle für ein Reh, was es in der Romanvorlage des Österreichers Felix Salten auch ist*. Doch als Walt Disney in den dreißiger Jahren die Rechte an dem Stoff erwarb, um daraus einen Zeichentrickfilm zu machen, verwandelte er Bambi kurzerhand in einen Hirsch. Denn in Amerika gibt es keine Rehe. Stattdessen gibt es dort Weißwedelhirsche, benannt nach ihrem weißen Schwanz (= Wedel). Die amerikanischen Kinder sollten ein Tier sehen, das sie kannten, also wurde das Zeichentrick-Bambi, das 1942 auf der Leinwand erschien, nicht von einer Rehricke, sondern von einer Hirschkuh aufgezogen, und am Ende wächst ihm ein prächtiges Hirschgeweih.

In der deutschen Synchronfassung aus dem Jahre 1950 wurde das Wort „deer“ (engl. für Hirsch) wieder mit „Reh“ übersetzt. Die Verwechslung wurde durch die Tatsache begünstigt, dass Rehkitze und Weißwedelhirschkälber einander sehr ähnlich sind. Die jungen Kinobesucher schlussfolgerten: Wenn Bambis Mutter ein Reh ist, sein Vater ein Hirschgeweih trägt, dann musste also das Reh das weibliche Pendant zum Hirsch sein. Mehrere Generationen von Schulkindern wuchsen in dem Glauben auf, dass Reh und Hirsch zusammengehören so wie Kater und Katze, Eber und Sau, Erpel und Ente, Siegfried und Roy. Dieser Irrglauben, inzwischen auch als „die Bambi-Lüge“ bekannt, hat sich bis heute gehalten. In einer aktuellen Umfrage ermittelte die Deutsche Wildtier-Stiftung, dass nahezu zwei Drittel der Kinder (nämlich 62 Prozent) überzeugt sind, das Reh sei die Frau vom Hirsch.

Einer der erfolgreichsten kommerziellen Amerikanismen zeigt uns alljährlich im Oktober seine gruselige Fratze: Mit viel Werbung und Rückendeckung aus Hollywood ist es dem deutschen Einzelhandel gelungen, das amerikanische Kinderschreckfest Halloween auch bei uns in Deutschland einzuführen. „Halloween“ hat übrigens nichts mit „Hallo“ zu tun, sondern ist die Kurzform von „All Hallows Evening“, zu Deutsch: der Abend vor Allerheiligen. Seit es das nun auch bei uns gibt, werden immer mehr Kohl- und Rübenäcker zu Kürbisfeldern umgewidmet. Und Fluggäste wundern sich über die leuchtend orangefarbenen Flecken in der norddeutschen Tiefebene. Der Kürbiskult ist schön für die Landwirtschaft, die jeden Profit brauchen kann. Ob die deutsche Kultur Halloween braucht, konnte noch nicht überzeugend beantwortet werden. Den Kindern dürfte es ziemlich egal sein, solange es Süßes gibt. Aber wenn der frühe Vogel bereits Sinn macht, dann wird am Ende des Tages auch Halloween für jedermann etwas meinen.

Felix Salten: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde. Berlin, Ullstein, 1923.

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.

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Ein Kommentar

  1. Christian Schulz

    Hallo Herr Sick
    Die Sache mit Bambi ist gar nicht so einfach.. Der Weißwedelhirsch gehört wie das europäische Reh zu den Trughirschen, ist mit dem Reh also viel enger verwandt als mit den Rothirschen, welche zu den echten Hirschen zählen. Insofern ist die Wahl des Weißwedelhirschs von Walt Disney gar nicht so schlecht gewesen.

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