Dienstag, 16. Juli 2024

Ein zu befahrenes oder zu befahrendes Land?

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Untergang Karthagos, Gemälde von William Turner: Eine zu zerstörende

Frage eines Lesers aus Mailand: Lieber Zwiebelfisch, als Korrekturleser für einen wissenschaftlichen Aufsatz stand ich neulich vor folgendem Problem: In einem Abschnitt über Länder, die zukünftige Reisende befahren werden, war von „Eigenschaften der zu befahrenden Länder“ die Rede. Vom Gefühl her habe ich korrigiert in „Eigenschaften der zu befahrenen Länder“. Daraufhin wurde ich gebeten, zu erklären, warum die eine Variante richtig ist und die andere nicht. Nach verschiedenen Versuchen hisse ich nunmehr die weiße Flagge und wende mich an Sie: Habe ich den Satz verschlimmbessert? Was ist richtig – und mit welcher Begründung?

Antwort des Zwiebelfischs: Hier haben wir es mit einem erlesenen grammatischen Phänomen zu tun, das den Namen Gerundivum trägt, oder auch kurz: Gerundiv. Es handelt sich um ein Partizip I mit passivischer Bedeutung, das eine dringende Empfehlung oder Notwendigkeit ausdrückt oder – in der Verneinung – ein Verbot oder eine Unmöglichkeit:

Empfehlung/Notwendigkeit:

– ein zu lesendes Buch (= muss/sollte gelesen werden)
– ein zu bereisendes Land (= muss/sollte bereist werden)

Verbot/Unmöglichkeit:

– ein nicht zu öffnendes Fenster (= kann oder darf nicht geöffnet werden)
– ein keinesfalls oral einzunehmendes Medikament (= darf unter keinen Umständen geschluckt werden)

Das Gerundiv gab es natürlich auch schon im klassischen Latein. Eines der berühmtesten lateinischen Beispiele stammt von Cato dem Älteren, der jede Rede mit den Worten beschloss: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“, was übersetzt bedeutet: „Im Übrigen meine ich, Karthago muss zerstört werden!“ Dieses „delendam“ (= muss zerstört werden) ist ein Gerundiv, denn die wörtliche Übersetzung lautet: „Im Übrigen meine ich, Karthago ist eine zu zerstörende (Stadt)“. Noch wörtlicher, aber dann schon fast nicht mehr Deutsch: „Im Übrigen meine ich Karthago eine zu zerstörende zu sein.“

Vermutlich war das Gerundiv schon bei den Römern eher der gehobenen als der Alltagssprache zuzurechnen. Das ist es jedenfalls im heutigen Deutsch. Manche halten es für gestelzt und betrachten es daher als eine „zu vermeidende Form“; andere aber sehen darin eine zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit und betrachten das Gerundiv – neben anderen -iven wie Genitiv, Konjunktiv und Superlativ – als einen weiteren funkelnden Edelstein in der Schatzkammer unserer Grammatik.

Man nennt es im Deutschen auch das „zu-Partizip“, weil es mit „zu“ gebildet wird – und mit der Form des ersten Partizips. Und das erste Partizip (auch Präsenspartizip genannt) endet im Deutschen immer auf -nd: lesend, reisend, sitzend, fahrend, schlafend, lachend etc.

Darum sind Länder, die unbedingt noch befahren werden müssen, nicht „zu befahrene Länder“, sondern „zu befahrende Länder“.

Ihr Irrtum resultierte vermutlich aus der Tatsache, dass die Form „befahren“ ebenfalls ein Partizip ist, und zwar ein Perfektpartizip. Es gibt durchaus „befahrene Länder“, das sind die, die man schon befahren hat. Das Gerundiv verweist aber auf etwas, das noch aussteht, und wird daher nicht mit dem Perfektpartizip, sondern mit dem Präsenspartizip gebildet.

Ich hoffe, meine Antwort war eine gut zu verstehende, und verbleibe mit herzlichen Grüßen ins unbedingt mal wieder zu bereisende schöne Mailand

Ihr Zwiebelfisch

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