Einige Fragen kehren immer wieder, auch wenn es die Antworten darauf längst gibt. Wer war zuerst da: die Henne oder das Ei? Wie kommen die Löcher in den Käse? Wer hat die Currywurst erfunden? Und: Wann schreibt man ein Wort mit Eszett und wann mit Doppel-S?
Vor ein paar Tagen rief mich ein Freund an, der für eine Werbeagentur arbeitet. Er verlor keine Zeit mit Höflichkeiten, sondern kam gleich zur Sache: »Ich hätte da mal eine fachliche Frage.« – »Aha«, erwiderte ich. »Wir haben einen Kunden, der Milchprodukte herstellt«, erklärte mein Freund. »Seine Firmenfarben sind Blau und Weiß. Der Slogan, mit dem wir für ihn werben wollen, lautet – halt dich fest: ›Blau-Weiß genießen’. Hab übrigens ich mir ausgedacht. Aber das nur nebenbei. Ist ein Wortspiel, weil der Kunde aus Bayern kommt, und die Landesfarben von Bayern sind ja bekanntlich Blau und Weiß.« – »Genau genommen Weiß und Blau, also gerade anders herum«, warf ich ein, doch das schien meinen Freund nicht weiter zu beeindrucken: »Blau-Weiß oder Weiß-Blau, das ist doch egal. Die Frage, die uns hier in der Agentur beschäftigt, lautet: Wie schreibt man Blau-Weiß? Hinten, wohlgemerkt. Mit Eszett, oder kann man es auch mit Doppel-S schreiben? Wenn man es googelt, findet man sowohl ›Blau-Weiß‹ als auch ›Blau-Weiss‹ – wobei es sich übrigens meistens um Sportvereine handelt. Also, hier meine Frage: Was ist richtig? Mit Eszett oder mit Doppel-S? Oder geht beides?« – »Klare Frage, klare Antwort«, erwiderte ich, »›Blau-Weiß‹ wird mit Eszett geschrieben.« Mein Freund hakte nach: »Und das andere geht nicht? ›Blau-Weiss‹ mit Doppel-S? Das fände unser Grafiker nämlich schicker.« – »Also«, hob ich an, »Regel Nummer eins lautet: Lass dir niemals von einem Grafiker sagen, wie eine Sache geschrieben werden soll. Grafikern haben wir zerstückelte Wörter wie ›Hafer Flocken‹ und ›Land Milch‹ zu verdanken, weil sie einen Bindestrich als hässlich empfinden. Regel Nummer zwei: ›Weiß‹ wird grundsätzlich mit Eszett geschrieben, weil dass ›ei‹ in ›Weiß‹ ein langer Klang ist.« – »Das Ei in Weiß? Du meinst: das Eiweiß?«, flachste meine Freund. Ungerührt fuhr ich fort: »Das ›ei‹ ist ein Doppelvokal, ein sogenannter Diphthong, und Doppelvokale sind immer lang. Ihnen folgt nie ein Doppel-S, sondern ein Eszett. Das gilt auch für ›au‹, ›äu‹ und ›eu‹ in Wörtern wie ›draußen‹, ‚äußerlich‹ und ›scheußlich‹. Die Faustregel lautet: Kurze Klänge – Doppel-S, lange Klänge – scharfes S.« – »Verstehe«, murmelte mein Freund. »Aber wieso gibt es im Internet dann so viele Fundstellen von ›Blau-Weiss‹ mit Doppel-S?« – »Entweder handelt es sich um Einträge von Menschen, die die Regel nicht kennen, oder es sind Einträge von Schweizern. Die Schweizer haben nämlich kein Eszett. Das wurde dort bereits seit den dreißiger Jahren nicht mehr gelehrt, aus praktischen Gründen, aber auch um sich vom Schriftbild des nationalsozialistischen Deutschlands zu unterscheiden.« Mein Freund stutzte: »Wie jetzt, ist das Eszett etwa eine Erfindung der Nazis?« – »Keineswegs! Das Eszett gibt es schon seit dem 13. Jahrhundert.« – »Sicher? Wir dürfen unseren Kunden auf keinen Fall durch missverständliche Zeichen in eine kompromittierende Lage bringen!« – »Das Eszett ist kein missverständliches Zeichen«, widersprach ich. »Das doppelte S schon eher. Aber lassen wir die historischen Bezüge aus dem Spiel, die führen hier nur in die Irre. Das Wort ›weiß‹ wird mit Eszett geschrieben – sowohl die Farbe als auch ›Ich weiß‹ von ›wissen‹. Der ›Hinweis‹ hingegen nicht, denn der kommt nicht von ›wissen‹, sondern von ›weisen‹. Die Eszett-Regel gilt allerdings nur, solange man mit regulärer Groß- und Kleinschreibung arbeitet. Wenn ihr euren Werbespruch in Versalien schreiben wollt, also in durchgehenden Großbuchstaben, dann geht es nur mit Doppel-S, weil das Eszett nicht als Großbuchstabe existiert. Normales Blau-Weiß mit Eszett, aber durchgehend großgeschriebenes BLAU-WEISS mit Doppel-S.« Mein Freund tippte kurz auf seiner Computertastatur, dann rief er: »Stimmt! BLAU-WEIß sieht blöd aus. Um nicht zu sagen: SCHEIßE!«. Er bedankte sich und versprach, dem Grafiker meine Grüße auszurichten.
Gestern schickte mir mein Freund die Entwürfe seiner Kampagne. Neugierig öffnete ich den Mail-Anhang. Ich erblickte ein junges Pärchen in freier Natur, sie mit selig geschlossenen Augen auf dem Rücken liegend, während er sie mit einem Löffel Joghurt füttert. Bemerkenswertes Detail: Es scheint, als würden ihre Körperformen vom Bergpanorama im Hintergrund imitiert. Rechts im Bild das Logo der Molkerei und die markigen Worte: »Blau-Weiß Geniessen«. Seufzend griff ich zum Hörer und rief meinen Freund an: »Genießen kommt zwar von Genuss, wird aber dennoch mit Eszett geschrieben, denn das ›ie‹ ist ebenfalls ein langer Klang. Nicht umsonst besteht es aus zwei Buchstaben. Außerdem wird ›genießen‹ kleingeschrieben, denn es ist nicht substantiviert.« – »Substi- was?«, echote mein Freund. Dann brummte er: »Na gut, das ändern wir. Auch wenn unser Chef-Grafiker meckern wird, denn bei ihm müssen alle Wörter gleichmäßig geschrieben sein, entweder jedes Wort groß oder alles klein. So ein Durcheinander mag der nicht.« – »Sag ihm, es käme darauf an, wie man Durcheinander definiert. Viele Empfänger der Werbebotschaft dürften es eher als ein Durcheinander empfinden, wenn altbekannte Regeln einfach über den Haufen geworfen werden. Und sagtest du nicht, ihr dürft euren Kunden auf keinen Fall in eine kompromittierende Lage bringen? Mit unsachgemäßer Rechtschreibung würdet ihr ihn sicher nicht gut dastehen lassen.« – »Da ist was dran. Der Rest ist aber klasse, oder?« – »Das Foto? Ganz wunderbar! Da möchte man sofort mitlöffeln! Lass mich raten: Das Motiv hast du ausgesucht, stimmt’s?« – »Stimmt!«, erwiderte mein Freund und lachte. »Das Model kenne ich sogar persönlich, aber das nur nebenbei.«
Heute erhielt ich den überarbeiteten Entwurf. »Unser Grafiker lässt dich zurückgrüßen«, schrieb mein Freund dazu. »Und in der ›genießen‹-Frage hat er einen Weg gefunden, dich auszutricksen. Wenn er deswegen eine Gehaltserhöhung verlangt, ist es deine Schuld!« Ich öffnete die Datei und las: »Blau. Weiß. Genießen.«
Na. Dachte ich. Wenn das keine Gehaltserhöhung wert ist!
(c) Bastian Sick 2015
*Zwar hat das Deutsche Institut für Normung (DIN) im Jahr 2008 eine Großversion des Eszetts für international standardisierte Zeichensätze eingeführt (ẞ), doch hat dieses (noch) keinen Eingang in die amtliche Rechtschreibung gefunden.
Weiteres zum Eszett:
Zwiebelfisch: In Massen geniessen
Zwiebelfisch: Die reformierte Reform
Fragen an den Zwiebelfisch: Brauchen wir das Eszett noch?
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