Freitag, 4. Oktober 2024

Der betäubte Kassenpatient

Spätestens seit der „Schwarzwaldklinik“ wissen wir, dass jede Therapie zu verkraften ist, wenn der Arzt unseres Vertrauens sie mit beruhigenden Worten erklärt. Dasselbe versuchen derzeit die Politiker in Berlin, die dem Kassenpatienten ihre Therapie des Gesundheitssystems per Verbalanästhesie schmackhaft machen wollen.

Reform tut Not, sagen die einen. Reform tut weh, wissen die anderen. Die Einschnitte im Gesundheitssystem versprechen für den Patienten äußerst schmerzhaft zu werden. Doch damit er nicht allzu laut schreit und womöglich vom OP-Tisch fällt, werden ihm, ohne dass er es merkt, einige sehr wirkungsvolle Betäubungsspritzen gesetzt.

In letzter Sekunde hat sich die Union auf einen Gegenentwurf zum Reformkonzept der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) geeinigt. Dem zufolge sollen zehn Prozent der Arzt- und Krankenhauskosten vom gesetzlich Versicherten künftig selbst getragen werden. Zehn Prozent – ein ziemlich tiefer Schnitt ins Fleisch, ein gehöriger Aderlass. Aber es fühlt sich schon nicht mehr ganz so schmerzhaft an, wenn man, wie dieser Tage in Berlin, von „Selbstabsicherung durch den Patienten“ spricht. Darin steckt immerhin das Wort „sicher“, und Sicherheit ist doch, was alle wollen. Irgendwie beruhigend. Das erinnert an das einlullende Zischeln der Schlange Kaa in Disneys Dschungelbuch: „Trussssst in me!“ Langsam, ganz langsam beginnt die erste Betäubungsspritze zu wirken. Der Atem wird flacher, der Puls beruhigt sich. „Selbstbehalt“ ist das Zauberwort, das dem Patienten sanft ins Ohr geträufelt wird. Klingt nach „behalten“, also weniger abgeben, denkt dieser und schnauft beruhigt. Tatsächlich bedeutet es genau das Gegenteil, nämlich Selbstbeteiligung, aber das wissen zum Glück nur Versicherungsagenten.

Spritze Nummer zwei: Förderung der Eigenverantwortung. Oh, wie wohl wird einem da ums Herz: Glückshormone werden freigesetzt! Der Patient soll gar nicht geschröpft werden, nein, er soll im Gegenteil gefördert werden! Und etwas Eigenes bekommen! Klingt „Förderung der Eigenverantwortung“ nicht fast genau so wie „Eigenheimzulage“? Na also, ist doch alles halb so schlimm! Schließe deine Augen, entspanne dich! Trussssst in me!

„Ausgliederung des Zahnersatzes“ ist eine Formulierung, die derart unangenehm nach Labor und Behandlungsstuhl klingt, dass man sie jederzeit, auch ohne Notstand und Reformstau, sofort und ohne nachzudenken unterschreiben würde: Ja, bloß weg mit dem Zahnersatz, solange die Zähne nur alle drin bleiben! Ein zufriedenes Nicken im Berliner OP-Zentrum: Die dritte Spritze hat gewirkt.

Und die Einsparungen bei den Krankenhäusern? Ach so, es geht nur um „Abbau von Bürokratie“! Na dann – nur zu! Und die Medikamente werden billiger, durch „Absenkung der Mehrwertsteuer“ bei gleichzeitig steigendem Selbstbehalt. Der Patient schläft tief und fest auf rosigen Sprachwölkchen.

Doch was ist das? Da dringen plötzlich erregte Stimmen in den Betäubungsschlaf. Zornige Worte werden laut und reißen den Patienten aus dem Schlummer. Die Reformvorschläge der Union seien eine „unerträgliche und sinnlose Abzocke von kranken und behinderten Menschen“, krakeelt zum Beispiel der Präsident des Sozialverbandes Deutschland, Peter Vetter. Ob man seine Meinung teilt, sei dahingestellt. Aber zumindest ist der Patient erst einmal wieder ganz wach.

(c) Bastian Sick 2003

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