Freitag, 4. Oktober 2024

Einfach Haar sträubend!

Früher gab es erdölfördernde Länder einerseits und milchverarbeitende Betriebe andererseits. Dann kamen die Ölkrise und die Rechtschreibreform. Heute gibt es Erdöl fördernde Länder und Milch verarbeitende Betriebe einerseits. Und andererseits grotesk zerrupfte Begriffe wie Kapital gedeckt, Rückfall gefährdet und Muskel bepackt.

Eines ist gewiss: Die Zeiten ändern sich. Der gutaussehende diensthabende Stationsarzt von einst ist heute allenfalls noch ein gut aussehender Dienst habender Stationsarzt. Und die ehemals gewinnbringenden Anlagen sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Ob das Gewinn bringend für unsere Sprachkultur ist, wird von vielen angezweifelt. Zu Recht, denn die Verwirrung in der zeitgenössischen Orthografie ist immens.

Die Rechtschreibreform wollte alles ein bisschen leichter machen. Regeln sollten vereinfacht werden, Ableitungen sollten logischer, Schreibweisen sollten deutscher werden. Schön und gut. Aber haben wir es mit der Rechtschreibung heute wirklich leichter? Wie kommt es dann zu derart irritierenden Textpassagen wie „Das Fernsehen sendete die Bilder Zeit versetzt“ oder „Die Rakete fliegt fern gelenkt“? Wo kommen auf einmal all die „Reform orientierten“ Chinesen her, die „Start bereiten“ Shuttles, die „Computer gestützten“ Spiele und die „Asbest verseuchten“ Schulgebäude?

Es lässt sich eine Besorgnis erregende Zunahme falscher Getrenntschreibungen feststellen. Besorgnis erregend, fast schon Furcht einflößend. Oder auch furchteinflößend. Auf jeden Fall Verwirrung stiftend.

Die Rechtschreibreform hat viele Zusammensetzungen auseinander gerissen. Plötzlich war hier zu Lande nichts mehr so, wie es hierzulande mal war. Und wer dem Geheimnis der neuen Regelung auf den Grund zu gehen versucht, der verstrickt sich alsbald in einem klebrigen Gespinst aus Widersprüchen und Ungereimtheiten.

Es würde zu weit führen, an dieser Stelle sämtliche Aspekte der Getrennt- und Zusammenschreibung erörtern zu wollen. Dazu reicht der Platz nicht aus, und etwas Stoff soll schließlich noch für folgende Kolumnen bleiben. Für den Anfang genügt es schon, einen kritischen Blick auf Zusammensetzungen mit so genannten Partizipien zu werfen. Partizipien sind Wörter, die von Verben abgeleitet werden, aber den Charakter von Adjektiven haben. Es gibt sie im Präsens: sitzend, schlafend, träumend. Und im Perfekt: gesessen, geschlafen, geträumt, erledigt, benutzt, verloren.

Früher war die Regel eigentlich ganz einfach: Eine Verbindung mit einem Partizip schrieb man zusammen und klein. Punktum. „Schweiß“ und „treibend“ ergabschweißtreibend, „Glück“ und „verheißend“ ergab glückverheißend, „allein“ und „erziehend“ ergab alleinerziehend. Diese Regel hat selten zu Protestaktionen oder Unterschriftensammlungen geführt, denn sie war kurz, einfach und logisch. Selbst weniger talentierte Lehrer waren in der Lage, sie zu vermitteln, und zur Not konnten sie sich bei der Mathematik bedienen, denn die Regel ließ sich als immergültige Formel darstellen: x + Partizip = Adjektiv.

Dann traten die Rechtschreibreformer auf den Plan und fanden, diese Regel sei überhaupt nicht logisch und bedürfe einer dringenden Überarbeitung. Wenn man die Grundform „viel versprechen“ in zwei Wörtern schreibt, so sei es doch nahe liegend, auch „viel versprechend“ in zwei Wörtern zu schreiben. Dabei haben sie eine alte Bauernweisheit außer Acht gelassen, die da lautet: „Die Hühner gackern in Hof und Stall, drum hört man Hühnergackern überall.“ Was will uns diese Weisheit sagen? Unter anderem dies: Nur weil zwei Wörter in der einen Konstellation auseinander geschrieben werden, muss das noch lange nicht heißen, dass man sie in einer anderen Konstellation nicht zusammenschreiben kann. Andernfalls hörte man das „Hühner Gackern“ überall, und dann wäre man wirklich reif für die Hühner freie – pardon: hühnerfreie Insel.

Allen Bauernweisheiten zum Trotz trat die Rechtschreibreform in Kraft und mit ihr jener Paragraf 36, der seither Tausende von Lehrern, Schülern, Lektoren und Journalisten in tiefste Verunsicherung und manchen Kolumnisten sogar in Verzweiflung gestürzt hat.

Die neuen amtlichen Regeln schreiben vor: Fügungen mit Partizip als zweitem Bestandteil werden getrennt geschrieben, wenn sie auch in der Grundform getrennt geschrieben werden. Länder, die Erdöl fördern, sind somitErdöl fördernde Länder. Betriebe, die Milch verarbeiten, sind Milch verarbeitende Betriebe. Mütter, die allein erziehen, sind allein erziehend. Und Meldungen, dieBesorgnis erregen, sind Besorgnis erregend.

Besorgnis erregend ist indessen auch die Vielzahl der Ausnahmen, bei denen dann doch die gute alte Zusammenschreibung gilt. Dies ist vor allem immer dann der Fall, wenn der erste Bestandteil der Fügung für eine Wortgruppe steht. Als Beispiel wird dann gerne der Begriff „angsterfüllt“ genannt. In der Grundform heißt es nämlich „von Angst erfüllt“, daher steht „angst-“ für eine verkürzte Wortgruppe, folglich muss die Fügung zusammengeschrieben werden.

Auch „herzerweichend“ ist so ein Fall – lautet die Grundform doch „das Herz erweichen“. Und „rufschädigend“, denn es heißt ja nicht, jemand „schädigt Ruf“, sondern jemand schädigt einen oder jemandes Ruf.

Das Asyl der Asyl suchenden Flüchtlinge hingegen geht nicht auf eine Wortgruppe zurück, daher sind sie nicht länger asylsuchend. Aber wie ist es mit den Arbeit suchenden Menschen? Die meisten von ihnen suchen vielleicht tatsächlich nur Arbeit, aber es ist doch ebenso gut möglich, dass ein paar von ihnen eine Arbeit suchen? Hätte man es dann nicht mit einer Wortgruppe zu tun? Mit einem eingesparten Artikel, so wie bei „herzerweichend“? Dann hätten diese Menschen zwar noch kein Recht auf Arbeit, aber immerhin ein Recht darauf, „arbeitsuchend“ genannt zu werden. Im Arbeitsamt müssten zwei Schlangen eingerichtet werden. Wer Arbeit sucht, der stelle sich links bei den Arbeit Suchenden an; und wer eine Arbeit sucht, der gehe nach rechts, zu den Arbeitsuchenden.

Die Korrekturhilfe von „Word“ lässt das Eigenschaftswort „arbeitsuchend“ entgegen der neuen Regelung gelten. Dafür unterstreicht sie aber Wörter wie muskelbepackt, scherbenübersät und kapitalgedeckt, obwohl die nach wie vor richtig sind. Prompt findet man in der Presse Sätze wie diese: „Muskel bepackt und gut trainiert müssen sie sein, die Saalordner der HipHop-Veranstaltungen.“ – „Der Sozialdemokrat fordert neben der gesetzlichen Rentenversicherung als zweite Säule eine Kapital gedeckte Rente.“ – „Die Straße ist Scherben übersät, Kinder rennen barfuß durch die Splitter.“ Oder auch: „Radfahrer bewarfen den Puma mit Steinen, bis er von der Blut überströmten Frau abließ.“

„Das haben wir nicht gewollt“, sagen die Befürworter der Rechtschreibreform heute, „das ist das Ergebnis einer völligen Fehlinterpretation der Regeln!“ Tatsache ist: Das große Reformwerk, das sich als richtungweisend verstand, erwies sich in der Praxis oft als Irre führend. Und „Word“ besorgt den Rest. Findige Verschwörungstheoretiker haben längst eine Verbindung ausgemacht zwischen der Rechtschreibkommission und den Programmierern der „Word“-Korrekturhilfe. Beide Gruppen hätten sich verschworen zu dem Zweck, die deutsche Gesellschaft durch Beseitigung aller sprachlichen Sicherheiten in ein Chaos zu stürzen, auf dass der Weg frei werde für die Übernahme der totalen Macht durch Dieter Bohlen.

Dass die Unterscheidung zwischen getrennt geschriebenen und zusammengeschriebenen Verbindungen nicht der Weisheit letzter Schluss sein konnte, ist den Verantwortlichen inzwischen selbst schmerzlich bewusst geworden. So hat die zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung dafür plädiert, die Schreibung von Verbindungen mit Partizipien „etwas zu flexibilisieren“ und den strittigen Paragrafen 36 um eine „Toleranzklausel“ zu ergänzen.

Demnach ist bei Verbindungen mit Partizipien neben der Getrenntschreibung nun ebenfalls (wieder) Zusammenschreibung möglich, jedenfalls solange das Partizip nicht allein für sich steigerbar ist.

Die Rat suchenden Leser sind also wieder als ratsuchend zugelassen, und Fleisch fressende Pflanzen dürfen wieder als fleischfressende Pflanzen verkauft werden. Ein Teilsieg der Reformgegner, ein kleiner Triumph der Logik. Wenn eines Tages der Wasser abweisende Schutzanzug auch wieder wasserabweisend sein darf und die Energie sparende Lampe energiesparend, dann bleiben uns vielleicht auch Kuriositäten wieBahn brechende Erfindungen, Hitze beständige Glasur und Grund legende Reformen erspart.

Bis dahin wird uns allerdings noch manch Atem beraubenderSinn entleerterFlächen deckenderOhren betäubenderHane büchener Unfug begegnen.

(c) Bastian Sick 2004


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

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