Freitag, 4. Oktober 2024

Ich geh nach Aldi

Woher kommen wir, wo gehen wir hin? Das sind Fragen, auf die es tausend verschiedene Antworten gibt. Fast ebenso viele Möglichkeiten ergeben sich bei der Frage, wie man sprachlich korrekt zum nächsten Supermarkt gelangt.

Weil meine Uhr dauernd nachgeht, bin ich ständig in Eile, denn ich habe große Angst, mich zu verspäten. Auch an diesem Morgen verlasse ich die Wohnung wieder in ziemlicher Hast und wäre um ein Haar mit meiner Nachbarin Frau Jackmann zusammengeprallt. „Na, Sie haben es aber eilig“, ruft sie erstaunt, „wo wollen Sie denn hin? Nach Aldi?“ – „Aldi?“, frage ich verwirrt, „was soll ich denn da?“ – „Na, da rennen doch jetzt alle hin“, erwidert Frau Jackmann, „wegen diesem Plasma-Fernseher! Den gibt es im Aldi jetzt für 899 Euro!“ – „Nein danke“, sage ich, „ich brauche keinen Fernseher – ich brauche eher eine neue Uhr.“ – „Dann müssen Sie nach Tchibo! Die haben gerade wieder Uhren im Angebot!“ – „Danke für den Tipp!“, rufe ich und eile die Treppe hinab. In der U-Bahn mache ich mir folgende Notiz: Was haben meine Uhr und meine Nachbarin gemeinsam? Beide gehen nach! Die eine zehn Minuten und die andere „nach Aldi“.

Frau Jackmann geht manchmal seltsame Wege, vor allem in sprachlicher Hinsicht. Dass man zu einem Supermarkt geht und nicht nach einem Supermarkt, das wollte ihr bis heute nicht einleuchten. Frau Jackmann geht beharrlich nach Aldi und nach Lidl, und analog zu ihrem Sohn, der jedes Jahr zum Wintersport nach Karlsbach fährt, geht sie regelmäßig zum Winterschluss nach Karstadt.

Die Supermarktkette der Gebrüder Albrecht hat es nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht zu bundesweiter Bekanntheit gebracht – auch als linguistisches Phänomen ist Aldi zu Ruhm gelangt. Denn kein sprachlicher Zweifelsfall entzweit die Deutschen so sehr wie die Frage, ob man nun „zu Aldi“ geht oder „nach Aldi“. Und jeder kennt den Witz mit dem Manta-Fahrer, der auf der Suche nach einem Supermarkt neben einem Türken bremst. „Ey, sag mal, wo geht’s hier nach Aldi?“, fragt er. „Zu Aldi“, verbessert der Türke. Der Manta-Fahrer guckt verdutzt: „Was denn, schon nach sechs?“

„Nach“ heißt es immer dann, wenn das Ziel eine Stadt, ein Land oder eine Insel ist:

Martin zieht nach Straßburg.

Kreti und Pleti fliegen nach Mallorca.

Theo fährt nach Lodz.

Eine meiner Cousinen, die in Thüringen lebt, verwendet gelegentlich den Ausdruck „Ich fahr auf Polen“. Beim ersten Mal habe ich sie noch verbessert: „Du meinst, du stehst auf Polen.“ Da lachte sie mich aus und wiederholte: „Nein, ich fahr auf Polen!“ Irgendwann habe ich dann begriffen, dass sie nicht die Menschen, sondern das Land meinte und dass einige Menschen eben nicht nach Polen fahren, sondern auf Polen. Diese interessante Verwendung der Präposition „auf“ hat vor allem im Ruhrgebiet zahlreiche Anhänger. In der Gelsenkirchen-Version des oben zitierten Witzes fragt der Mantafahrer natürlich: „Wo geht’s denn hier AUF Aldi?“, denn in Gelsenkirchen geht man schließlich auf Schalke. Wer nach Schalke geht, der kommt zweifelsfrei nicht von Gelsenkirchen „weg“, sondern von woanders her und wird sich möglicherweise verlaufen.

Doch zurück zur Standardsprache. Wenn das Ziel eine Person ist, dann wird die Präposition „zu“ verlangt:

Ich fahre zu Henry.

Wir fliegen zu meinen Eltern.

Elke zieht zu ihrem Freund.

Firmen werden in der Grammatik genauso behandelt wie Personennamen. Meistens ist der Name eines Unternehmens ja aus einem Personennamen hervorgegangen. Für Frau Jackmann scheint es sich bei Karstadt allerdings nicht um eine Firma zu handeln, sondern eher um eine Ortschaft; denn sie geht grundsätzlich „nach Karstadt“. Nun deutet der zweite Bestandteil des Namens ja auch auf eine stadtartige Beschaffenheit hin, und Frau Jackmann beweist immer wieder, dass man sich mühelos einen ganzen Nachmittag in dieser Stadt aufhalten kann, ohne dass einem langweilig wird.

Mit der Unterscheidung zwischen „zu“ und „nach“ ist es übrigens nicht getan. Die deutsche Sprache hat noch mehr zu bieten. In einigen Gegenden geht man nicht zu oder nach, sondern „bei Aldi“, so wie man beispielsweise auch sagt: „Am Sonntag gehen wir alle wieder schön bei der Oma!“ Tagtäglich kann man auf unzähligen Spielplätzen in Deutschland den Ruf „Komm bei Mutti!“ hören. Nicht zu verwechseln mit „Komm bei Fuß!“ – diesen Ruf gibt es natürlich auch. Und wenn die Kinder „bei Mutti“ und „bei der Oma“ gehen, dann gehen die Erwachsenen konsequenterweise „bei Aldi“. Im Rheinland gehen sie auch gern „bei’n Aldi“ – das lässt sich noch besser sprechen. Und im Ruhrgebiet, wo man an so manches Gesprochene gern noch ein Wörtchen dranhängt, da wird das „bei“ sogar noch verdoppelt, und die Aufforderung, näher zu rücken, wird dann zu: „Komm mal lecker bei mich bei!“

Das Verwirrende an diesen „Bei“-Spielen ist, dass Fügungen wie „bei Mutti“ oder „bei der Oma“ nicht grundsätzlich der Standardgrammatik widersprechen. Schließlich heißt es korrekt: „Ich bin gern bei meiner Oma“ oder „Bei Mutti schmeckt’s am besten“. Wenn die Person mit „wo“ erfragt werden kann, dann ist „bei“ die richtige Präposition. Die Verben „gehen“ und „kommen“ führen allerdings nicht zur Frage „Wo?“, sondern zur Frage „Wohin?“ und können daher vor Personen nur mit „zu“ gebraucht werden.

In Süddeutschland kauft man „beim“ Aldi oder „beim“ Lidl. Das liegt daran, dass Namen dort prinzipiell mit Artikel gesprochen werden: der Franz, die Elisabeth, das Mariandl. Man geht vornämlich zum Alois, zum Michl und zur Christa, aber auch nachnämlich zum Hillgruber, zum Moosbauer und zum Obermayer – folglich auch zum Aldi und zum Lidl. Wer also gerade „beim“ Spar war, „zum“ Edeka will oder „vom“ Rewe kommt, der drückt sich nicht etwa falsch aus, sondern typisch süddeutsch.

Frau Jackmann kauft nicht bei Aldi, auch nicht beim Aldi, sondern im Aldi. Vermutlich würde sie argumentieren, dass Aldi ein Supermarkt sei, und schließlich heiße es „im Supermarkt“, also müsse man auch „im Aldi“ sagen können. „Es heißt zwar ‚alles im Eimer‘, aber eben nicht ‚alles im Aldi’“, bliebe mir nur zu erwidern. Immerhin kauft Frau Jackmann nicht „inne Aldi“, das sagt man in einigen Gegenden nämlich auch, und manch einer geht sogar „nach ’m Aldi hin“.

Dass Ausländer sich angesichts solcher Probleme mit deutschen Präpositionen besonders schwer tun, ist nur allzu verständlich. Die junge Generation deutscher Türken (oder türkischer Deutscher) hat in ihrem hinreißenden Jargon das Problem auf ganz einfache, klare Weise gelöst: Vor Aldi, Lidl und anderen Geschäften steht überhaupt keine Präposition mehr. Der Streit über „nach“ oder „zu“ ist hinfällig: „Musste noch Lidl?“, heißt es zum Beispiel voll krass, und: „Nö, ich war gerade Aldi!“ Frau Jackmann findet das ganz schauderhaft. „Wer so redet, der findet doch nie im Leben eine Arbeit. Nicht mal als Packer im Aldi.“

Einen Fall gibt es freilich, in dem man „nach Aldi“ sagen kann, ohne dabei die Standardgrammatik zu verletzen. Wenn es nämlich heißt: Ich geh nach Aldi noch zu Lidl.

(c) Bastian Sick 2006


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 3“ erschienen.

Lesen Sie auch:

Das Wunder des Genderns

Kein sprachliches Thema hat die Gemüter in den letzten Jahren so sehr bewegt und erhitzt …

5 Kommentare

  1. Eine nette Variante hörte ich in einer Sendung aus dem Münsteraner Zoo, als ein Pfleger ein Tier zu sich rief mit den Worten „Komm nach hier!“
    Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob das Tier der Aufforderung nachkam.

  2. „Ich geh noch eben nach Aldi.“ „Zu Aldi!“-„Wie, Aldi schon zu?“

  3. Werner Hoets-Klann

    „Nach“ heißt es immer dann, wenn das Ziel eine Stadt, ein Land oder eine Insel ist:
    Martin zieht nach Straßburg.
    Kreti und Pleti fliegen nach Mallorca.
    Theo fährt nach Lodz.
    —————————————————————–
    Und darum sagen wir im Rheinland auch:
    nache Schweiz bzw. nache Türkei
    Viele Grüße
    Werner Hoets-Klann

  4. In Papua-Neu Guinea kann man nach Rewe gehen.

  5. Sehr geehrter Herr Sick, auf einer Karte eines Monopolyspiels der 50er/60er Jahre hieß es: „Gehe nach dem Ostbahnhof“, in einer Version aus den 90ern hingegen „Gehe zum Ostbahnhof“. Kann man ungefähr das Jahr benennen, wann dieser Wechsel in der Grammatik erfolgte? Und ob es ein ähnlicher Vorgang wie bei der Rechtschreibreform war?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert