Mittwoch, 24. April 2024

Kein oder keinen Millimeter?

Am Sonntag nach der Wahl schlendern meine Freundin Sibylle und ich durch die Innenstadt. Als wir an einer Ampel stehenbleiben, fällt unser Blick auf einen Aufkleber am Pfosten. »#KEIN MILLIMETER NACH RECHTS« steht darauf zu  lesen. »Die sieht man jetzt überall«, stellt Sibylle fest. Dann wird sie stutzig und fragt: »Aber muss es nicht eigentlich keinen Millimeter heißen? Man sagt zwar kein Thema und kein Problem, aber beim Millimeter kommt mir das komisch vor!« –  »Thema und Problem sind sächlich, darum heißt es im Nominativ und im Akkusativ gleichermaßen ›kein‹. Aber der Millimeter ist männlich, und da wird ›kein‹ im Akkusativ zu ›keinen‹«, erkläre ich. »Und wir haben es hier mit dem Akkusativ zu tun, denn es ist die Verkürzung von ›Wir gehen keinen Millimeter nach rechts‹ oder ›Ich bewege mich keinen Millimeter nach rechts‹.« – »Dann hatte ich also recht!«, ruft Sibylle, über sich selbst erstaunt, denn Grammatik ist normalerweise nicht ihre Stärke. »Der Spruch ist falsch!« – »Nun ja, sagen wir mal, die Formulierung ist umgangssprachlich.« – »Kein gutes Vorbild für all diejenigen, die sich ohnehin schon mit unserer Sprache schwer tun«, findet Sibylle.      

Wir setzen uns in ein Café, wo ich rasch mein Telefon zücke, um eine kleine Internet-Recherche zu starten. Wie sich  herausstellt, handelt es sich bei »Kein Millimeter nach rechts« um ein Zitat aus einem Lied von Herbert Grönemeyer, das kurioserweise »Fall der Fälle« heißt. »Damit wird er wohl kaum den Akkusativ gemeint haben!«, raune ich. Sibylle lacht. »Das erklärt wenigstens, wo die fehlende Silbe geblieben ist. Der Grönemeyer hat sie verschluckt.« – »Als Sänger darf er das selbstverständlich«, erwidere ich. »Und auch als Dichter – das fällt unter künstlerische Freiheit. In der Kunst darf man die Grammatik schon mal verbiegen. Wenn das Zitat allerdings aus dem Lied herausgelöst wird und ein Eigenleben entwickelt, ist das etwas anderes. Die Leute, die ›Kein Millimeter nach rechts‹ auf T-Shirts, Becher und Sticker drucken, können sich nicht hinter Grönemeyers künstlerischer Freiheit verschanzen.« Viele Politiker, die Grönemeyer zitiert haben, taten dies übrigens mit korrektem Akkusativ: »›Keinen Millimeter nach rechts!‹ Danke, Herbert #Groenemeyer und allen Menschen, die sich gegen Rassismus, Hass und Diskriminierung einsetzen.«, twitterte zum Beispiel ein Abgeordneter der SPD.

Und als ich noch ein wenig weiter suche, stoße ich auch auf einen Anbieter, der T-Shirts mit »Keinen Millimeter nach rechts« vertreibt. Amüsiert stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn sich zwei junge Männer auf der Straße begegneten, der eine mit einem »kein Millimeter«-Shirt, der andere mit einem »keinen Millimeter«-Shirt bekleidet: gleiche Weltanschauung, aber unterschiedliche Grammatikauffassungen.    

Anderntags schickt mir Sibylle eine Textnachricht: »Vielleicht magst du über das Thema ja eine Kolumne schreiben. Aber muss nicht sofort sein. Kein Stress.«. Ich schreibe ihr zurück: »Bin schon dabei! Und keine Angst, ich mach mir KEINEN Stress.« Daraufhin erhalte ich eine Reihe lachender Emojis. Es ist aber auch eines dabei, das mir die Zunge rausstreckt.


Beugung von »keiner«, »keine« und »kein«


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Zum Thema: Einer von 80 Millionen?

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3 Kommentare

  1. Vor allem bei Jugendlichen bemerke ich in zunehmendem Maße das „Verschlucken“ der „en“-Silbe, welches häufig auf grammatischer Unkenntnis beruht. Das Problem betrifft unbestimmte Artikel und Attribute bzw. Adjektive maskuliner Nomen im Akkusativ. Für die Abkürzung von „einen“ zu „nen“ gibt es ein ähnliches Phänomen, bei dem statt „nen“ (fälschlich) nur „n“ gesprochen wird, so, als handele es sich um ein abgekürztes „ein“: „damit tätst du mir „n“ großen Gefallen“. Zu dieser „Fehlsprachweise“ tendiere ich gar selbst. Ebenso habe ich aber auch bei Freunden mit ansonsten sehr elaborierter Diktion das genau gegenteilige Phänomen observiert: statt des korrekten zu „n“ abgekürzten „ein“ wird falsch „nen“ gesagt.

  2. Warum MUSS diese Formulierung Akkusativ sein? Es ist ja eine elliptische Formulierung.
    Erwartet wird wohl in der Regel eine Ergänzung wie »wir weichen … (keinen Millimeter nach rechts)«.
    Aber es kann sich m.E. auch um einen Nominativ handeln!
    Es kann sich m.E. auch auf Ergänzungen beziehen wie:
    – »Kein Millimeter (soll) nach rechts (freigegeben werden)« (Passivkonstruktionen),
    – »Kein Millimeter nach rechts (ist akzeptabel)«,
    – »Kein Millimeter nach rechts (ist angebracht)« o.Ä.

    Und eine weitere Überlegung kommt hier auch nicht vor (habe ich aus einer Diskussion auf Facebook): Der Duden akzeptiert bei Maßeinheiten auch die ungebeugte Form bei »ein« (z.B. »ich trinke ein Liter Milch«, »in ein Meter Tiefe«). Interessant wäre die Frage, ob sich das auch auf »kein« übertragen lässt?

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