Sonntag, 20. Oktober 2024

Manche mögen’s apfelig

Immer wieder geraten Wörter in Umlauf, die es eigentlich nicht geben dürfte. Adjektive wie apfelig, möhrig oder rosinig. Die kennen Sie nicht? Dann brauchen Sie diese Kolumne nicht zu lesen. Hinterher kommen Sie noch auf gänsige Gedanken!

Zu seinem zwölften Geburtstag schenke ich Felix, dem Sohn meiner Freundin Alexandra, einen MP3-Player. „Wow, das ist einfach granatig!“, ruft er freudig. Seine Mutter wirft mir einen Blick zu, der mich fragen soll: „Gibt es das Wort granatig?“ Ich lächle zurück: „Es steht vermutlich nicht im Wörterbuch, aber ich lasse es durchgehen! Geburtstägige Sondergenehmigung!“

Man kennt das Adjektiv „bombig“, und weil Bomben und Granaten oft in einem Atemzug genannt werden, könnte es ebenso gut das Adjektiv „granatig“ geben.

Theoretisch lässt sich zu jedem Hauptwort ein Eigenschaftswort bilden. Wenn es „riesig“ gibt, muss es eigentlich auch „zwergig“ geben. Und tatsächlich: „Zwergig“ steht im Duden, zwischen Zwerghuhn und Zwergin. Ich habe es allerdings noch nie gebraucht. Da kann man mal sehen: Angesichts der Fülle an Möglichkeiten ist mein aktiver Wortschatz geradezu zwergig.

Von einigen Hauptwörtern lassen sich sogar mehrere Eigenschaftswörter ableiten: aus „Kind“ wird „kindlich“ und „kindisch“, aus „Holz“ wird „holzig“ und „hölzern“. Von anderen wiederum lässt sich nicht mal ein einziges bilden. „Baum“ zum Beispiel – im Wörterbuch findet man weder „baumig“ noch „bäumisch“ oder „baumen“.

Dabei gäbe es Bedarf! „He, du, sei nicht so bäumisch!“, könnte man einem Mitarbeiter in der Firma oder einem Spieler auf dem Fußballplatz zurufen, der einfach nur in der Gegend herumsteht und sich nicht von der Stelle rührt. Immerhin unterstellt man solchen Menschen ja, sie würden Wurzeln schlagen, und das geht semantisch doch schon ein gutes Stück in Richtung Baum.

Für manche Menschen aber sind „apfelig“, „möhrig“ und „rosinig“ ganz selbstverständliche Wiewörter. Für meinen Freund Philipp zum Beispiel. Der sagt Sätze wie „Die Schokolade ist mir zu rosinig“ oder „Die Creme schmeckt ganz schön apfelig.“ Man kann darüber kichern oder verwundert den Kopf schütteln oder es einfach originell finden. Das Wunderbare an unserer Sprache ist ja, dass sie so elastisch ist und viel mehr Möglichkeiten zulässt, als unser willkürliches und nicht immer besonders logisches Regelwerk erlauben will.

Philipp geht nicht gern in katholische Kirchen, weil die ihm „zu kerzig und madonnig“ sind. Die Wortschöpfung „madonnig“ gefiel mir besonders, da wurden bei mir sofort Erinnerungen an madonnige Disco-Zeiten der achtziger Jahre wach.

Seltsamerweise gibt es nur wenige Tiere, von denen Eigenschaftswörter abgeleitet werden – obwohl sich der Mensch doch ständig mit Tieren vergleicht. Es gibt „affig“ und „bärig“, aber „entig“ oder „gänsig“ sind mir bislang noch nicht untergekommen – auch „löwig“ oder „pferdig“ scheint es nicht zu geben. Dabei reden manche Menschen wirklich gänsig, und so mancher zeigt dabei noch ein pferdiges Grinsen.

Philipp ist bei weitem nicht der Einzige, der diese Art von kreativem Sprachgebrauch pflegt. Meine Innenarchitektin beherrscht die Kunst der Wiewortschöpfung mindestens genauso virtuos.

Zum Beispiel versprach sie mir, meine Küche so einzurichten, dass sie „nicht so küchig“ wirke. Und als ich beim Blättern im Katalog für Büromöbel das eine oder andere Modell verwarf, weil es mir zu sachlich oder zu technisch erschien, sagte sie: „Verstehe, das ist Ihnen zu büroig!“ Natürlich hätte sie sagen können: „Das sieht zu sehr nach Büro aus“ oder „Das wirkt zu büromäßig“, doch sie entschied sich für „büroig“. Das ist erstens kürzer und zweitens emotionaler, und schon deshalb passt es zu meiner Innenarchitektin, denn die fühlt die Räume, bevor sie sie füllt.

Vermutlich hat sie sich ganz bewusst für „büroig“ entschieden, weil es ihr gerade auf das Wiewortige in der Formulierung ankam; weil die Beschaffenheit des Raumes dadurch hörbarer wurde. Wie auch immer, meine Innenarchitektin hat mich überzeugt: Die Wohnküche gefällt mir in ihrem unküchigen Stil, und ebenso mein Arbeitszimmer, das alles andere als büroig wirkt. Im Bücherregal neben dem Duden steht ein Kästchen, in dem ich kuriose wiewortige Formulierungen sammle.

Erst vergangene Woche kam wieder eine hinzu. Da saß ich mit einer Kollegin im Café und sprach mit ihr über einen neuen Mitarbeiter, der auf mich sehr förmlich wirkt, weil er jeden Tag im Anzug erscheint. „Der sieht aber nicht immer so geschäftsleutig aus“, verriet sie mir, „abends und am Wochenende läuft er ganz freizeitig rum.“

Gestern kamen Philipp und seine Freundin Maren zu mir, um sich meine neue Wohnung anzusehen. „Überhaupt nicht büroig“, bestätigte Philipp, als er das Arbeitszimmer sah. Da meine Küche zu unküchig geraten war, um als Küche zu dienen, lud ich die beiden zum Essen ins Restaurant ein. Dort zeigte sich, dass Maren sich von Philipps Wiewortbilderei längst hatte anstecken lassen. Denn auf die Frage, worauf sie Appetit habe, erwiderte sie: „Ich nehme irgendwas Gemüsiges – mit einem unsprudeligen Wasser dazu!“

(c) Bastian Sick 2009


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 4“ erschienen.


Leserpost: Es gibt auch „entig“!

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