Donnerstag, 25. April 2024

Trügerischer Anschein des Scheinbaren

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Das trojanische Pferd – nur ein scheinbares Friedensgeschenk

Morgens um sieben ist die Welt anscheinend noch in Ordnung. Oder ist sie es nur scheinbar? Allem Anschein nach ist der unscheinbare Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend nicht hinlänglich bekannt. Dabei verbirgt sich hinter dem anscheinend Ähnlichen nur scheinbar Gleiches.

Morgens um kurz nach sieben springt der Radiowecker an, und eine notorisch gut gelaunte Stimme quäkt: „… lässt Dieter in gewohnter Manier die Hosen runter, und nach anfänglichen Startschwierigkeiten mausert sich sein zweites Buch jetzt scheinbar zu einem richtigen Verkaufsschlager.“ Der Schlag auf die Schlummertaste kann gar nicht hart genug sein, wenn es gilt, nervende Quasselstrippen auf Radiosendern zum Schweigen zu bringen, die angeblich „kein Gelaber“ senden. Erst recht, wenn sie sich in hilfsbedürftigem Deutsch über hilflose Literaturversuche verbreiten. Leider währt die Ruhe nur wenige Minuten. Und bei der nächsten Weck-Attacke tut er es tatsächlich wieder: „… zwei zu null, die Gastgeber hatten sich scheinbar gut auf dieses Spiel vorbereitet.“

Der Bedeutungsunterschied zwischen „anscheinend“ und „scheinbar“ ist offenbar selbst Radiosprechern nicht immer geläufig. Dabei ist er alles andere als gering. „Anscheinend“ drückt die Vermutung aus, dass etwas so ist, wie es zu sein scheint: Anscheinend ist der Kollege krank, anscheinend hat keiner zugehört, anscheinend hat der Chef mal wieder schlechte Laune. „Scheinbar“ hingegen sagt, dass etwas nur dem äußeren Eindruck nach, nicht aber tatsächlich so ist: Scheinbar interessierte er sich mehr für die Nachrichten (in Wahrheit wollte er bloß seine Ruhe haben); scheinbar war der Riese kleiner als der Zwerg (weil der Zwerg ganz weit vorne stand und der Riese ganz weit hinten); scheinbar endlos zieht sich die Wüste hin.

In den meisten Fällen, in denen scheinbar gebraucht wird, ist in Wirklichkeit anscheinend gemeint. Sätze wie „Das ist ihm scheinbar egal“ oder „Scheinbar weiß es keiner“ sind häufig zu hören, doch leider – meistens – falsch. Richtig muss es heißen: „Das ist ihm anscheinend egal“ und „Anscheinend weiß es keiner“. Andernfalls würde es bedeuten, die Gleichgültigkeit und die Unwissenheit wären nur vorgetäuscht.

In besonders romantischen Momenten steht die Zeit scheinbar still. Hier ist scheinbar richtig, denn es handelt sich nur um einen „gefühlten“ Zeitstillstand und keinen echten. Doch wo immer sich jemand scheinbar geirrt hat, da hat er sich höchstwahrscheinlich bloß anscheinend geirrt. Zum Beispiel Cäsar; der hatte sich anscheinend in Brutus getäuscht, sonst hätte ihn dessen Beteiligung am Komplott nicht derart überrascht. Dass er kein Misstrauen gegen Brutus hegte, lag daran, dass dieser ihm scheinbar wohlgesinnt war. Pech für Cäsar, dass der Schein trog.

Ein noch berühmteres Beispiel liefert die griechische Sagenwelt: Im Kampf um Troja waren die Belagerer scheinbar zum Rückzug bereit. Ihr hölzernes Pferd sollte die Trojaner von ihrem Friedenswillen überzeugen. Über die Erkenntnis, dass zwischen Anschein und Wirklichkeit oft brutale Lücken klaffen, versank Troja in Schutt und Asche.

Der Duden weist darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen scheinbar und anscheinend „relativ jung“ ist: Erst im 18. Jahrhundert wurden die beiden Wörter „gegeneinander abgegrenzt und differenziert“. Da sich diese Differenzierung auch im 21. Jahrhundert noch nicht vollständig herumgesprochen hat, kann man sich ungefähr ausrechnen, was das für andere Differenzierungen bedeutet, die bedeutend jünger sind: Die Rechtschreibreform beispielsweise wird sich demnach auch im 23. Jahrhundert noch nicht endgültig durchgesetzt haben.

Die Hartnäckigkeit, mit der sich scheinbar am falschen Fleck behauptet, ist möglicherweise auch mit der gestiegenen Beliebtheit der Endsilbe -bar begründbar. Außerdem ist scheinbar anscheinend praktischer, zumal um eine Silbe kürzer. Und das Wichtige, der „Schein“, kommt gleich als Erstes und nicht erst in der Mitte. Der Gebrauch des Wortes anscheinend verlangt dem Benutzer einen winzigen Moment des Nachdenkens ab, scheinbar hingegen ist was für Schnellsprecher, die sich beim Reden nur ungern durch Nachdenken aufhalten lassen.

Dazu gehört anscheinend auch der scheinbar ständig gut gelaunte Radiosprecher vom Sieben-Uhr-Weck-und-Schreck-Kommando. Denn der plappert unbeirrt weiter: „Von seiner letzten Platte verkaufte er gerade mal zwei Millionen Exemplare. Scheinbar will ihn keiner mehr hören.“ Was morgens um sieben wirklich keiner hören will, ist dummes Geschwätz. Das ist weder scheinbar so noch anscheinend; das steht völlig außer Zweifel. Höchste Zeit, sich einen anderen Sender zu suchen.

Sinnverwandte Begriffe

scheinbar anscheinend
nur zum Schein allem Anschein nach
angeblich vermutlich
vorgeblich wohl
nicht in Wirklichkeit wahrscheinlich
vorgetäuscht möglicherweise
trügerisch womöglich

 

(c) Bastian Sick 2003


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

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3 Kommentare

  1. Peter Heinrichs

    Lieber Herr Sick,

    Sie schreiben: „Der Bedeutungsunterschied zwischen „anscheinend“ und „scheinbar“ ist offenbar selbst Radiosprechern nicht immer geläufig.“

    „Nicht immer“ ist weit untertrieben. In fast 95% aller Fälle verwenden Radiosprecher, Drehbuchschreiber, Synchronisierungen, Newsletters usw. statt „anscheinend“ nur noch das Wort „scheinbar“. „Anscheinend“ ist mir seit Ewigkeiten nicht mehr begegnet.

  2. Kögler, Ulrich

    Die Bedeutung von „scheinbar“ erkläre ich so:
    scheinbar = des Scheines bar
    also „bar“ im Sinne von „nackt“ oder „entkleidet“, so wie barfuß = baren Fußes= nackten Fußes bedeutet, da es sich um einen (von Socke oder sonstigem Fußkleid) entkleideten Fuß handelt.

  3. Dr. Diether Steppuhn

    Lieber Herr Sick,

    würde man wie ich vor siebzig Jahren im Deutschunterricht noch Merksprüche lernen, gäbe es keine Zweifel am Unterschied zwischen ,scheinbar‘ und ,anscheinend‘. Wir haben damals diesen Satz auswendig gelernt: „,Scheinbar‘ und ,anscheinend‘ sind nur scheinbar dasselbe, was anscheinend viele nicht wissen.“

    Wir lernten damals auch diesen Spruch: „Wer ,brauchen‘ nicht mit ,zu‘ gebraucht, braucht ,brauchen‘ gar nicht zu gebrauchen.“

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