Donnerstag, 10. Oktober 2024

Was ist naheliegender als das Nächstliegende?

Eine Leserin wollte von mir wissen, wie man das Wort „naheliegend“ steigert. Wird eine Lösung, die am nächsten liegt, zur nächstliegenden Lösung oder zu naheliegendsten Lösung? Das ist eine tiefschürfende Frage, dachte ich. Auch wenn es bestimmt noch tiefschürfendere Fragen gibt – wenn nicht gar tiefer schürfende Fragen.

Es geht dabei um Wörter, die alle nach dem gleichen Prinzip zusammengesetzt sind: vorne ein Adjektiv (Eigenschaftswort) und hinten ein Partizip (Mittelwort). 

„Wohlbedacht“ zum Beispiel. Ist eine Entscheidung, die gründlicher überlegt ist als eine andere, eine wohlbedachtere oder eine wohler bedachte Entscheidung?

Es kommt einerseits darauf an, ob man die Zusammensetzung auch in zwei Wörtern schreiben kann. Die Wörter „tiefschürfend“ und „wohlbedacht“ gibt es nur in zusammengeschriebener Form, weil es sich um feststehende Begriffe handelt. Und die werden, wenn überhaupt, nur am Ende gesteigert: am Wohlbedachtesten, am Tiefschürfendsten (nicht: am Wohlsten bedacht und am Tiefsten schürfend).

Bei „naheliegend“ sind beide Schreibweisen möglich, also auch „nahe liegend“. Und in diesen Fällen gibt es keine eindeutige Regel, sondern nur Empfehlungen. Der Duden hat seine Wahl getroffen: „Die Vergleichsformen lauten näherliegend, nächstliegend“ liest man in Band 9 „Richtiges und gutes Deutsch“. Im Zeitungstextarchiv des Instituts für Deutsche Sprache liegen die Formen „nächstliegende“ und „naheliegendste“ allerdings fast gleichauf: ein Beleg dafür, dass es die Presse nicht so mit dem Blick ins Wörterbuch hält. Heute wird im Zweifelsfall gegoogelt, und da erhält man für „naheliegendste“ deutlich mehr Treffer als für „nächstliegende“.      

Ich war unsicher, wie man „vielsagend“ steigert: Ist ein Blick, der mehr sagt als ein anderer, ein vielsagenderer Blick oder ein mehr sagender Blick? Diese Frage stelle sich gar nicht, ergab meine Recherche, da „vielsagend“ ein Absolutum und folglich nicht steigerbar sei. Das fand ich etwas kleinkariert und einen schönen Beweis dafür, dass andere offenbar noch kleiner kariert sind als ich.  

Es gilt also nicht nur zu klären, ob Fügungen wie „festkochend“, „kaltlächelnd“, „leerstehend“, „schwerwiegend“, „übelriechend“ oder „zähfließend“ in einem oder in zwei Wörtern geschrieben werden, sondern auch, ob eine Steigerung überhaupt sinnvoll ist. Bei „festkochend“ bin ich mir ziemlich sicher, dass die Vergleichsform „fester kochend“ nicht sinnvoll ist. (Auch wenn mich diese »Rewe«-Werbung fast überzeugt hätte, dass Orangen mindestens so festkochend wie Kartoffeln sind.) Bei „übelriechend“ halte ich eine Steigerung für durchaus möglich, denn jeder, der schon mal etwas Übelriechendes wahrgenommen hat, wird früher oder später feststellen, dass es noch um vieles übler riechende Dinge gibt – wenn nicht gar übelstriechende. 

Eines steht immerhin fest: Egal, ob Sie nun den ersten oder den zweiten Bestandteil steigern – Hauptsache, Sie steigern nicht beide gleichzeitig! Dann sind wir nämlich schnell bei der „nächstgelegensten“ Lösung oder dem „meistverkauftesten Buch“, und die Frage, ob George Clooney nur ein „gutaussehender“ Schauspieler ist oder womöglich der „am besten aussehende“, verblasst vor der (oft zu lesenden, aber leider völlig übersteigerten) Behauptung, er sei der „bestaussehendste Schauspieler“. Die Frage „naheliegender“ oder „nächstliegender“ ist also nicht das einzige Problem. Und erst recht nicht das einzigste.

Lesen Sie auch:

In Hamburg sagt man »Moin«

Vor Kurzem traf ich mich mit meinem alten Freund Ary in Hamburg. Wir wollten einen …

2 Kommentare

  1. Eine Recherche im Zeitungstextarchiv macht meiner Meinung nach wenig Sinn, denn Grammatik und Rechtschreibung in deutschen Zeitungen werden immer schlechter. Selbst in seriösen Zeitungen wie meiner (immerhin 160.000 gedruckte/verkaufte Exemplare ohne Onlineausgabe) finden sich immer wieder Fehler bis hin zu dass/das-Verwechslungen.

  2. Guten Tag Herr Sick
    Den Artikel finde ich toll, besonders zum Nachdenken für Menschen, die sich nicht sonderlich um korrekte Anwendung unserer Sprache kümmern.
    Es heißt dann immer wieder: Aber es steht doch im Duden!
    Der Duden ist ein Privat-Unternehmen und kann bei sich aufnehmen was er will,
    er ist nicht staatlicher „Deutschvorschreiber“.
    Dafür gibt es den amtlichen „Rat für deutsche Rechtschreibung“.
    Ihr Artikel wäre übrigens auch etwas für die Deutsche Sprachwelt.
    Es wird leider viel zu wenig für unsere Sprache getan.

    Gruß
    Gerd Manzel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert