Mittwoch, 2. Oktober 2024

Beißt der Hund meinen Nachbarn oder meinem Nachbarn ins Bein?

Frage einer Leserin aus Gilgenberg (Österreich):

Lieber Herr Sick,

„Schreibt man das mit ‚m‘ oder mit ‚n‘?“, fragte mein Sohn die Lehrerin bei der Ansage (= Diktat). Die Lehrerin wollte es ihm nicht noch einmal sagen, da bei einer Ansage das Gesprochene nicht wiederholt wird. Mein neunjähriger Sohn schrieb den Satz daher so, wie es ihm sein Sprachgefühl sagte (also mit „m“): „Der Hund biss meinem Nachbarn ins Bein.“

Aber genau das hatte die Lehrerin nicht gesagt, sondern „Der Hund biss meinen Nachbarn ins Bein“. Und es war ein Fehler.

Nun muss man festhalten, dass – da wir Österreicher sind und eigentlich ja Dialekt sprechen – es in unserem Innviertler Dialekt mit den Fällen überhaupt nicht so genau geht.

Mein Sohn traut sich die Lehrerin nicht zu fragen. Er möchte aber auch so gerne eine Erklärung haben. Was ist also richtig und warum?

Ich habe übrigens mit großem Genuss Ihre beiden Bücher „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ schon mehrmals gelesen. Hoffentlich haben Sie Zeit und ich bekomme eine Antwort von Ihnen.

Antwort des Zwiebelfischs: Liebe Leserin, bei einer so höflich formulierten Frage ist Ihnen eine Antwort natürlich gewiss. Noch dazu, wo es um einen Schüler in Kasusnöten geht.

Bei Verben der körperlichen Berührung (das sind: beißen, hauen, kratzen, peitschen, schlagen, stechen, stoßen, treten etc.) kann das Objekt sowohl im Dativ als auch im Akkusativ stehen.
Wenn das Subjekt unpersönlich ist, geht es jedoch nur im Dativ:

– Die Sonne stach mir in die Augen (nicht: mich)
– Der Wind peitschte ihm ins Gesicht (nicht: ihn)

Wenn das Subjekt aber persönlich (Mensch oder Tier) ist, hat man zwischen Dativ und Akkusativ die Wahl.

Der Dativ ist die Antwort auf die Frage „Wem?“:

– Der Hund biss meinem Nachbarn ins Bein.

Frage: Wem biss der Hund ins Bein? Antwort: Meinem Nachbarn (und nicht etwa dem Briefträger).

Der Akkusativ verlagert den Fokus auf das getroffene Körperteil, er ist die Antwort auf die Frage „Wohin?“:

– Der Hund biss meinen Nachbarn ins Bein.

Frage: Wohin biss der Hund meinen Nachbarn? Antwort: ins Bein (und nicht in den Arm oder ins Gesicht).

Ihr Sohn hat folglich keinen Grammatikfehler gemacht. Da es sich jedoch um ein Diktat handelte und die Lehrerin „meinen Nachbarn“ gesagt hat, war es zumindest ein Rechtschreibfehler, denn „meinen“ wird hinten mit „n“ geschrieben und nicht mit „m“. Ich hätte das „m“ jedoch höchstens eingekringelt und keinen Fehler dafür gegeben; denn es zeugt ja nicht von einem Missverständnis der orthografischen Regeln. Da gibt es wirklich Schlimmeres!

Herzlichen Dank, dass Sie mir ein österreichisches Wort beigebracht haben. „Ansage“ für „Diktat“ ist ein weiteres Beispiel dafür, dass für jedes Fremdwort eine deutsche Entsprechung vorstellbar ist. Ich wusste, dass man in Österreich zum Beispiel auch „Beistrich“ anstelle von „Komma“ sagt; „Ansage“ kannte ich noch nicht, und so habe ich wieder etwas hinzugelernt.

Im Gegenzug freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, dass es von mir inzwischen nicht nur zwei Bücher über den Dativ und den Genitiv gibt, sondern bereits sechs. Es gibt also noch einiges für Sie zu entdecken! Viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ihnen Ihr Bastian Sick

PS: Als ich mich vorhin beim Essen mit meiner Freundin Sibylle über dieses Thema unterhielt, wollte sie wissen, wie es denn sei, wenn der Hund nicht ins Bein beißt, sondern bloß an selbiges pinkelt: „Es heißt doch ,Der Hund pinkelt mir ans Bein‛ – geht das denn auch im Akkusativ? Der Hund pinkelt mich ans Bein? Aber wie sollte man danach fragen? ,Wohin pinkelt mich der Hund?‛ Das klingt mehr als seltsam.“ – „Pinkeln ist kein Verb der Berührung“, erklärte ich. „Ach“, seufzte Sibylle, „erklär das mal dem Hund!“


Weiteres zum Thema Dativ/Akkusativ:
Zwiebelfisch: Der Ganzkörperdativ
Abc: jemandem/jemanden das Fürchten lehren
Abc: das kostete ihn/ihm das Leben
Abc: mit und ohne dich/dir

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7 Kommentare

  1. Thomas Schmidt

    Hallo Herr Sick,

    kleiner Fehler im vorletzten Absatz, zweiter Satz. Da fehlt das „zu“ für den erweiterten Infinitiv ;-).

    Viele Grüße und einen schönen Abend,
    Thomas Schmidt

  2. Christoph Oertel

    So oder so war es aber sehr engstirnig von der Lehrerin, das als „Fehler“ anzukreuzen, und zeugt nur von der Uninspiriertheit des gewöhnlichen Schulsystems, das nur in „richtig“ und „falsch“ einteilt und das dann benotet. Wo bleibt die Bildung zum inspirierten, nach wirklichem Verständnis Suchenden? Auch für Lehrer, die nie aufhören sollten sich zu bilden (und sich über neue Wörter wie „Ansage“ freuen)?

  3. Lieber Herr Sick,
    in diesem Zusammenhang fällt mir ein Satz ein, den man im Kohlenpott sicher hören kann. Schalker Fan: „Ach, hör mich doch auf mit den Breitenreiter sein Kacksystem!“
    Viele Grüße aus den (!) Pott,
    Gerhard Weitz

  4. Vermutlich war nur die Frage falsch gestellt. Vielleicht hätte der Sohn fragen sollen, „steht bei diesem Satz der Nachbar oder das Bein im Vordergrund?“.

    Die spontane Antwort könnte die Leserin aus Gilgenberg ja beim nächsten Elternabend erfragen.

    (Ich zweifele jedoch, bei der Qualität der Lehrerausbildung (in D) daran, dass die/der Pädagog(e/in) diese Frage so beantworten kann wie die Schreibweise als „falsch“ beurteilt wurde.)

    Wollen Sie uns hier auf dem Laufenden halten?

  5. Hartmut Winnig

    Der Hund biss meinen Nachbarn (sind hier vielleicht mehrere gemeint?) ins Bein (dann müsste es wohl in die Beine heißen?).

  6. Petra Brinkert-Lederer

    Vielen Dank auch von mir für diese sachkundige und fröhliche Aufklärung.
    Herzliche Grüße!

  7. Walter Hesekiel

    Die Sache mit der körperlichen Berührung leuchtet mir nicht ein. Ein einzelner frecher Sonnenstrahl trifft mir mitten ins Gesicht, aber auch mich mitten im Gesicht. Die persönliche Betroffenheit liegt nicht in der Persönlichkeit des Subjekts, sondern des Objekts. Es kommt aber auch drauf an, ob der Hund ohne Erwähnung meines Beins mir oder mich pinkelt. Beides kann er nicht, aber mir geht trotzdem. Das ist ein frei schwebender Dativ der Betroffenheit (im Hochdeutschen, der im Dialekt als Akkusativ noch toller klingt): Der Hund ist mich am Beim am Pinkeln. – Du isst mich nicht, du trinkst mich nicht, du stippst mich in den Kaffee nicht, du bist mich doch nicht krank? Auch auf Hochdeutsch geht Folgendes: Jetzt hat der mir immer noch nicht gepinkelt! Und ich muss doch die Urinprobe haben. – Der hat mir ein Chaos angerichtet …

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