Viele Redensarten sind jahrhundertealte Überlieferungen und erklären sich nicht mehr von selbst. Wie Bernstein, in dem manch prähistorisches Insekt überdauert hat, enthalten sie in Vergessenheit geratene Wörter, Formen und Bedeutungen. Und manchmal sogar einen alten Genitiv.
Gerade saß ich an meinem Schreibtisch und grübelte über ein neues Thema für meine Kolumne nach, da traf eine E-Mail mit einer Frage ein. Ein Leser wollte wissen, was es mit der Redensart »Ehe man sich’s versieht« auf sich habe: Was habe das Pronomen »es« darin zu suchen? Könne man sich nicht auch ohne »es« versehen?
Wenn das keine glückliche Fügung war: Eben noch wusste ich nicht, worüber ich als nächstes schreiben sollte, und ehe ich mich’s versah, hatte ich ein Thema gefunden.
Selbstverständlich könne man sich auch ohne »es« versehen, antwortete ich dem Leser, und zwar immer, wenn man nicht richtig hingesehen und folglich einen Fehler begangen habe. Doch das sei in der Wendung »ehe man sich’s versieht« nicht gemeint, denn dabei gehe es nicht um ein Versehen.
Tatsächlich hat das Verb »versehen« nicht weniger als vier verschiedene Bedeutungen: Zum einen steht es für »ausüben« (seinen Dienst versehen), zum anderen für »ausstatten« (einen Zettel mit einer Nummer versehen). Als rückbezügliches Verb »sich versehen« hat es außerdem die Bedeutung »sich irren«, »sich vertun«. So wird es heute am häufigsten gebraucht.
Bei der Redensart »ehe man sich’s versieht« trifft jedoch keine der genannten Bedeutungen zu. Hier hat »sich versehen« eine weitere, vierte Bedeutung, die inzwischen veraltet ist, nämlich »mit etwas rechnen«, »etwas erwarten«. Und in dieser Bedeutung führte »sich versehen« stets ein Genitivobjekt mit sich:
»Er versieht sich keiner Gefahr« bedeutete »Er rechnet mit keiner Gefahr«; »Sie versah sich des Ärgsten« bedeutete »Sie war aufs Schlimmste gefasst«.
In Theodor Fontanes Roman »Frau Jenny Treibel« (1892) wird sich über den Kommerzienrat Treibel beklagt, »von dem wir uns eines Besseren versehen hätten«, sprich: von dem man Besseres erwartet hätte.
Man versah sich also immer eines Genitivobjekts, wenn man »sich versehen« im Sinne von »erwarten« gebrauchte. Und ein solches Genitivobjekt ist das apostrophierte »es« in »ehe man sich’s versieht«.
Das »es« steht hier verkürzend für »dessen« oder »einer Sache«. Ließe man es weg, beraubte man das Verb seines Objekts – und damit seiner alten Bedeutung »mit etwas rechnen«. Was man hingegen weglassen kann, ist der Apostroph: Seit der Rechtschreibreform kann man »sichs« auch einfach zusammenschreiben. Wer aber »sich’s« für besser lesbar hält, dem steht es frei, beim Apostroph zu bleiben.
Die Wendung »ehe man sich’s versieht« ist also ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit, die letzte Form, in der »sich versehen« in seiner fast vergessenen vierten Bedeutung anzutreffen ist. Und das auch nur, weil die Worte zu einer feststehenden Redensart geworden sind und gewissermaßen tiefgefroren die Zeit überdauert haben. Darum kann man sie auch nicht einfach wieder auftauen und verändern und zum Beispiel das »’s« wieder zu »es« machen: »ehe man sich es versieht« wäre jedenfalls sehr ungewöhnlich.
Und dann bliebe noch die Frage, ob das »es« überhaupt an der richtigen Stelle steht. Denn mit der Position des »es« hat es noch eine besondere Bewandtnis.
Wenn man das »es« in einem Satz wie »Da lässt es sich gut leben« apostrophiert, verändert es seine Position und wandert hinter das »sich«: »Da lässt sich’s gut leben«. So lässt sich’s nämlich besser sprechen. Beim Versuch, »Da lässt’s sich gut leben« auszusprechen, stoßen zwei S-Laute aufeinander, sodass man unwillkürlich zischt wie eine Dampflok. Darum hat sich hier in der Umgangssprache schon vor geraumer Zeit ein Stellungswechsel eingebürgert.
Dieser Wechsel findet immer statt, wenn ein Reflexivpronomem im Spiel ist. Die Erkenntnis »Man kann es sich nicht immer aussuchen« wird zu »Man kann sich’s nicht immer aussuchen« – und nicht zu »Man kann’s sich nicht immer aussuchen«. Die Essenz von Essig mag extrem sauer sein, aber die Essenz von »es sich« ist einfach nur »sich’s«.
Obwohl das apostrophierte »’s« vor »mich« und »dich« bei der Aussprache keine Schwierigkeiten bereiten würde, wechselt es auch in diesen Fällen seine Position und wird zu »mich’s« und »dich’s«. Das ist nicht jedem klar, denn wenn man »ich’s mich« und »ich mich’s« googelt, werden einem für das Zweite 12.300, für das Erste aber immerhin 7400 Fundstellen angezeigt, also mehr als die Hälfte.
Die Frage, wie »ehe man sich’s versieht« korrekt konjugiert wird, kann einen leicht in die Irre führen, und ehe man sich’s versieht, hat man sich versehen.
Der Kommentar, besonders der Schlusssatz ist hinreißend und ich bin dankbar, bei meiner Frage, die ich selbst mühsam mittels meiner wenigen vorhandenen Lexika abschließend zu beantworten nur schwer, wenn überhaupt, in der Lage gewesen wäre, ratzfatz auf diesen Blog gestoßen zu sein.
Vielen Dank.
Das Buch habe ich übrigens vor Jahren mit Genuss gelesen.
Herzliche Grüße von
Eberhard
Erster und befriedigender Google-Treffer bei meiner Suche nach der Bedeutung von Herrn Settembrinis Aussage über Hans Castorps philosophische Ader in Thomas Manns Zauberberg: „Sapristi, Ingenieur, Sie legen da philosophische Gaben an den Tag, deren ich mich gar nicht von Ihnen versehen hätte!“
Vielen Dank