Montag, 30. Dezember 2024

Schöner als wie im Märchen

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Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, da lebte einst ein Mädchen, schöner wie eine Prinzessin. Seine Haut war weißer wie Schnee, die Lippen roter wie Blut und die Haare schwärzer wie Ebenholz. Sie kennen die Geschichte? Aber bestimmt nicht in dieser stilistisch bedenklichen Fassung.

Schneewittchen war nur mal eben hinausgegangen, um die Wäsche aufzuhängen, da brach der Streit von neuem los. „Ich werde Schneewittchen heiraten!“, rief der dicke Zwerg, „denn mich mag sie am meisten!“ – „Wie kommst du denn darauf?“, protestierte der dünne Zwerg, „Mich mag sie doch viel lieber wie dich!“ – „Ihr seid beide im Irrtum“, sagte der grimmige Zwerg, „Schneewittchen kann euch beide nicht leiden! Deshalb wird sie mich heiraten!“

„Ruhe!“, fuhr der älteste Zwerg dazwischen, den die anderen den Chef nannten. „Schneewittchen wird keinen von euch heiraten!“ – „Warum denn nicht?“, fragte der dicke Zwerg verdutzt. „Weil ihr nun mal Zwerge seid“, sagte der Chef, „fleißige, aufrechte, herzige Erzbergwerkzwerge, gewiss, aber eben Zwerge. Schneewittchen wird einen Prinzen in ihrer Größe heiraten!“

„Also, wenn’s nach der Größe geht, dann habe ich die besten Chancen“, behauptete der dicke Zwerg und stellte sich auf die Zehenspitzen, „denn ich bin der Größte von uns allen!“ – „Gar nicht wahr“, schrie der dünne Zwerg und sprang auf den Tisch, „ich bin größer wie du!“ – „Du irrst schon wieder“, widersprach der grimmige Zwerg, „erstens bist du ein Mickerzwerg, und zweitens heißt es größer als du, nicht größer wie du!“ – „Von mir aus, dann bin ich eben größer als wie du, Hauptsache, ich bin größer!“

„Nicht größer als wie du, sondern größer als du!“, knurrte der grimmige Zwerg, „wie kannst du glauben, Schneewittchen würde dich heiraten, wenn du nicht mal richtig Deutsch kannst!“

„Jetzt komm mir nicht mit Grammatik, Brummbär! Größer wie oder größer als, das ist doch ein und dasselbe!“ – „Nein, es ist nicht dasselbe. Es ist nicht mal das Gleiche!“, stellte der Chef klar. „Bei Gleichheit sagt man wie, und bei Ungleichheit als.“ – „Genau! Das nennt man Positiv und Komparativ!“, trumpfte der Grimmige auf. „Woher weißt du denn so was?“, fragte der Dicke ungläubig. „So steht’s im Grimmschen Wörterbuch!“, erwiderte der Grimmige von oben herab, worauf der Dünne patzig zurückgab: „Ach, erzähl doch keine Märchen!

„Brummbär hat Recht“, sagte der Chef, „die Vergleichspartikel wie steht nach dem Positiv, als hingegen nach dem Komparativ. Ich nenne euch ein paar Beispiele: Schneewittchens Haut ist so weiß wie Schnee. Keiner von euch ist so alt wie ich. Dieser Sommer ist genauso heiß wie der letzte. Die Sache ist genau so, wie ich sie euch erklärt habe.“ Der Chef machte eine Pause: „Das war der Positiv. Und jetzt kommt der Komparativ: Schneewittchens Haare sind schwärzer als Ebenholz. Ich bin älter und klüger als jeder andere von euch. Dieser Winter wird noch viel kälter als der letzte. Die Sache ist weitaus  komplizierter, als ich sie dargestellt habe.“

„Niemand bezweifelt, dass du der Klügste von uns bist, Chef“, sagte der Dicke, und der Dünne pflichtete ihm bei: „Du bist mindestens neunmal klüger wie wir.“ Der Chef schüttelte den Kopf: „Wenn überhaupt, dann bin ich neunmal so klug wie ihr.“  – „Oder neunmal klüger als wir!“, rief freudestrahlend der Dünne, der den Unterschied begriffen zu haben glaubte. „Das ist nicht ganz dasselbe“, schränkte der Chef ein, „neunmal klüger ist einmal mehr als neunmal so klug. Wäre ich neunmal klüger als ihr, dann wäre ich ein Zehnmalklug. Aber um das zu verstehen, braucht man ein Erbsenzählerdiplom. Und Erzbergwerkzwerge haben selten ein Erbsenzählerdiplom.“

Der Grimmige schüttelte den Kopf: „Hier steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“, sagte er. „Falsch!“, rief der Dünne, „so klug wie zuvor!“ – „Das war nicht falsch, sondern von Goethe!“, knurrte ihn der Grimmige von der Seite an.

Der Chef nickte und fuhr fort: „In gehobener Sprache wird beim Komparativ auch gern das Wörtchen denn gebraucht, vor allem, um zu vermeiden, dass zwei als aufeinander folgen: Er ist besser als Koch denn als Chef. Lieber sterben, denn als Erzbergwerkzwerg zu enden.“

In diesem Moment kam Schneewittchen zur Tür herein. „Hallo, meine lieben Zwerge, da bin ich wieder“, flötete sie. „Hallo, Schneewittchen!“, rief der Dicke aufgeregt, „bitte sag uns, wen hast du von uns am liebsten? Wir müssen es wissen! Bin ich es?“ – „Oder ich?“, quiekte der Dünne. Schneewittchen warf den Kopf zurück und lachte. Dann sagte sie: „Aber ihr wisst es doch, meine lieben Zwerge, dass ich euch alle gleich lieb habe! Ich hab euch lieber als die Tiere im Wald, koche und putze für euch so oft wie möglich, fühle mich bei euch mehr daheim als in irgendeinem Schloss, nehme euch so wichtig wie gute Freunde, wie treue Kameraden, nein, mehr als das, ihr seid für mich … wie Brüder!“ Die Zwerge seufzten entzückt. Schneewittchen strahlte, und dann biss sie in den Apfel, den sie draußen von einem alten Mütterchen geschenkt bekommen hatte, fiel auf der Stelle um und war tot.

„Frauen und Äpfel, es ist doch immer das Gleiche!“, jammerte der dünne Zwerg. „Ja, aber nie dasselbe!“, bemerkte der grimmige Zwerg. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann streiten sie noch heute.

(c) Bastian Sick 2004


Fundstück: Lahmes Angebot

Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ erschienen.

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12 Kommentare

  1. Rainer Göttlinger