Mittwoch, 27. März 2024

Übermütiges Vergnügen mit „Ü“

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Es sind nicht nur die exzentrische Grammatik und die unbegrenzten Möglichkeiten der Wortzusammensetzungen, die das Besondere des Deutschen ausmachen. Auch die Umlaute zählen dazu: „ü“ und „ö“ mit Pünktchen gibt es nur in wenigen Sprachen. Sie sind die schönste typografische Verbindung zwischen Deutsch und Türkisch.

In der Adventszeit bekommt der Mensch Stiefel voller Lebkuchen und Schokolade, er bekommt kalte Füße und rote Nasen, Kaufanfälle, Beklemmung im Gedränge, Lust auf Gesänge, Hass auf Wham! und Katerstimmung nach zu viel Punsch. Ich bekomme in der Adventszeit regelmäßig Leserzuschriften mit Fotos von Weihnachtsmarktständen, auf denen „Advent’s-Kerzen“, „Adventzkaländer“ oder „Atwentskarten“ feilgeboten werden.

Einmal schickte mir jemand ein Bild von einer Angebotstafel, auf der das Wort „Gülühwein“ stand. „Jetzt haben offenbar auch die Türken die Freuden der Vorweihnachtszeit entdeckt“, schrieb er dazu. Dem Gülühwein-Fundstück folgten weitere mit türkischem Anstrich: ein „Fürühstückssalon“ aus Wien, ein Lastwagen in Deutschland mit der Aufschrift „Gürüstbau“. Das könne kein Zufall sein, meinte mein Freund Henry und raunte: „Das sind Ündüzien dafür, dass das Türkische aufs Deutsche abzufärben begünnt!“

Es mag ja stimmen, dass das Türkische eine Sprache mit vielen „Ös“ und noch mehr „Üs“ ist: Es gibt Wörter wie „Müdürlüǧü“ (= Direktion, Leitung) und Sätze wie „Gülüm, gül yüzünü güldürürüm senin“. Das heißt auf Deutsch: „Meine Rose, ich kann dein Rosengesicht zum Lachen bringen.“ Wer hätte hinter so vielen „Üs“ eine solche Poesie erwartet?

Meine Freundin Nurcan schickt mir gern per SMS „Üç küçük öpüçük“, und dann freue ich mich immer ganz besonders, denn das sind „drei kleine Küsschen“.

Die türkische Sprache zeichnet sich durch ihren Vokalreichtum aus. Sie kennt keine zwei aufeinanderfolgenden Konsonanten. Daher pflanzt mancher Türke beim Versuch, sich durchs deutsche Konsonantengestrüpp zu schlagen, die eine oder andere türkische Vokal-Blume. So kann es passieren, dass „Glühwein” zu „Gülühwein“ wird und ein „Frühstück“ zu einem „Fürühstück“. Nach den Gesetzen der türkischen Vokalharmonie hätte sogar ein „Fürühsütück“ daraus werden können.

Tatsache ist, dass zwischen dem türkischen Alphabet und dem deutschen eine ganz besondere Verbindung besteht. 1928 löste das Neue Türkische Alphabet die bis dahin gültige arabische Schreibweise in der Türkei ab. Der Staatsgründer Kemal Atatürk hatte bei der Entwicklung des neuen Alphabets selbst mitgewirkt. Als es galt, Buchstaben für die Abbildung des „ü“-Lautes und des „ö“-Lautes zu finden, entschied Atatürk, dem deutschen Vorbild zu folgen. Daher ist die türkische neben der deutschen eine der wenigen Sprachen, in der es sowohl „Ös“ als auch „Üs“ gibt.*

Ich wollte den Beweis antreten, dass nicht nur das Türkische dem „Ü“ einen besonderen Stellenwert beimisst, und habe mich auf die Suche nach deutschen Wörtern begeben, die mindestens zwei „Üs“ enthalten. Einmal damit angefangen, ließ mir die Ü-Suche keine Ruhe mehr. Nachts lag ich wach und grübelte bis in die Früh über Wörter mit zwüfachem „Ü“. Am Morgen hatte ich die folgenden zusammengetragen:

Türdrücker, Südfrüchte, Geflügelwürste, Glückwünsche, Lückenbüßer, Rührschüssel, Brühwürfel, Glühwürmchen, Rückenbürste und – quasi als Tüpfelchen auf dem Ü – Stützstrümpfe und Bürzeldrüse. Nicht zu vergessen Büchners Bühnenstücke, schwüle Frühlingsgefühle, günstige Frühflüge und überfüllte IC-Züge. Dort, wo ich herkomme, gibt es außerdem jede Menge „Kürchtürme“.

Danach begann ich, ganze Sätze mit Ü-Wörtern zu bilden. Dieses übermütige Vergnügen kostete mich eine weitere schlaflose Nacht. Aber es hat sich gelohnt. Als draußen schon die Vögel zu zwütschern begannen, hatte sich das Blatt Papier mit folgenden Sätzen gefüllt:

Süßliche Düfte übertünchen üble Küchengerüche.

Fünfundfünfzig verrückte Thüringer türmen in Güterzügen über Uelzen und München in den Süden.

Hüben wie drüben sprühen Rübenzüchter flüssige Gülle über die Frühblüte.

Müffelnde Müslitypen mümmeln süße Frühstücksgrütze mit Früchteklümpchen.

Züchtig verhüllte die Büßerin ihre fülligen Brüste mit Tüll; die Übrigen zügelten mit Mühe ihre sündigen Gelüste.

Wütende Bürger stürmten die Güter des Fürsten, plünderten und zündelten und flüchteten mit güldenen Lüstern und Münzen. (Die gestürzten Büsten des Fürsten dümpeln fürderhin im trüben Tümpel.)

Wer da glaubte, ich wäre dieses Spielchens irgendwann überdrüssig geworden und ermüdet, der befündet süch üm Ürrtum! Ich bin schließlich gebürtiger Lübecker. Und ab öbermörgen sammle ich dann schöne, wohltönende Wörter mit Ö! Tschöhö!

Für Nurcan

(c) Bastian Sick 2011

 

*Die Umlautbuchstaben „ö“ und „ü“ treten zusammen sonst nur in den finnougrischen Sprachen Estnisch, Finnisch und Ungarisch auf. 


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.


FOTOALBUM: Gülühwein zum Fürühstück

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6 Kommentare

  1. da fällt mir nur eins ein:

    trü chünüsen müt düm cüntrübüss …

  2. Geübte Frühaufsteher fühlen bei Ihren Übertreibungen des Benützens des Üs ein übles mürrisches Gefühl. Über Übertreibungen zu überlegen übt jedoch das Sprachgefühl.

    Schüler, übt Übergebräuche!

  3. was vergnügliches für zwüschendürch …

  4. Hallo Herr Sick,
    die ä,ö und ü gefallen mir auch sehr. In alten Schriften sieht man, dass das nur vereinfachte Schreibungen eines a, o und u mit einem kleinen e darüber sind. Ohne Umlaute schreiben wir ja immer noch ae, oe und ue.
    Das Ungarische ist aber noch einen Schritt weiter als unsere Sprache. Dort gibt es nicht nur ö und ü mit Pünktchen drüber, sondern auch mit Doppelstrichchen: ő ű. Mit Pünktchen spricht man es kurz (wie in öffnen, Glück) mit Strichlein lang (wie in schön, müde).
    Viele Grüße
    Dieter Schulz

  5. Köhler, Ulrich

    Was ich als Sänger wie jeder gute Schauspieler und Sprecher üben musste und noch ümmer üben müsste:
    „Dürft‘ ich nicht flüchtig dies üppige Mündchen
    Züchtig ihr küssen? — Wie süss mich’s entzündet!
    Südliche Blüthen, die trüg‘ ich, wie üblich —
    Schüchtern im Frühling ihr glühend zu Füßen!
    Wüsst ich, wie stündlich dies schüfe ihr Glück,
    Würd‘ ich’s mit bündigen Schwüren ihr künden!“
    (aus: Der kleine Hey, Sprechübungen)

  6. Hüstel… würklich zümlich ünterhaltsam!!!

    Jürgen übermannen überragend üble Gefühle bezüglich übermütiger Überlegungen für Üstra-Türen.

    Allmählich erhält Änna, nächtlich häufig lächerliche Tänzerin, träumend tatsächlich ästhetische Mäuse-Häuser.

    Plötzlich völlig zögerlich, möchte Björn öfter Görans größte Möwen-Vögel höchst löblich schöne Töne flöten hören.

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