Donnerstag, 3. Oktober 2024

Was gewesen war

Plusquamperfekt-Gedicht

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern und auch nicht zurückholen. Aber sie ließ sich schon immer auf unterschiedliche Weise darstellen: im Perfekt oder im Präteritum – oder mit anderen Mitteln. Dabei waren auch immer schon Fehler gemacht worden. Erfahren Sie ein paar Dinge über das Plusquamperfekt, die Sie vielleicht noch nicht gewusst gehabt hatten. 

In einer jener Gerichtssendungen, wie sie eigentlich gerichtlich verboten werden sollten, wird eine gewisse Vanessa (Mitte 20, dreifache Nasenpiercingträgerin) nach ihrer Beziehung zu jenem Mann befragt, dem ein Autodiebstahl zur Last gelegt wird. „Hatten Sie mit dem Angeklagten ein Verhältnis?“, will der Staatsanwalt von ihr wissen. Vanessa gibt sich entrüstet: „Wie jetzt: Ich? Nee, also echt nicht, mit dem da hatte ich nichts gehabt.“ Die Richterin blickt über den Rand ihrer Brille; zwar sagt sie nichts, aber ihr ist anzumerken, dass sie Vanessa vermutlich nicht für einen Recall vorschlagen würde. Der Staatsanwalt hakt nach: „Eine Zeugin behauptet, Sie kurz vor der Tat zusammen mit dem Angeklagten in einem Café gesehen zu haben. War es so?“ – „Nee, das war ich nicht gewesen!“, beteuert Vanessa. „Echt nicht!“

Das wäre jetzt die Chance für den Staatsanwalt, Vanessa in die Enge zu treiben, indem er klarstellte: „Ich habe nicht gefragt, ob Sie gehabt hatten oder gewesen waren, sondern ob Sie hatten oder waren!“ Doch das tut er nicht. So etwas steht nicht in seinem Drehbuch.

Gerichtssendungen, so wird behauptet, seien erschaffen worden, um die Funktionsweise unseres Rechtssystems einem breiten Publikum nahezubringen. Mehr noch scheinen sie dafür geschaffen, Besonderheiten des Sprachgebrauchs zu demonstrieren. In diesem Fall die Verwendung des Plusquamperfekts.

Plusquamperfekt bedeutet wörtlich übersetzt „mehr als vollendet“ und wird auf Deutsch auch „vollendete Vergangenheit“ genannt. Es ist eine Art Aushilfszeit, die nur dann zum Einsatz kommt, wenn es gilt, zwei unterschiedliche Zeitabläufe in der Vergangenheit zu unterscheiden: das eine, das geschah, nachdem zuvor etwas anderes geschehen war. Dass das Römische Reich im Präteritum unterging, lag unter anderem daran, dass es zuvor im Plusquamperfekt von den Goten überrannt worden war.

Daher wird das Plusquamperfekt auch Vorvergangenheit genannt. Mit diesen Begriffen kann man als Laie oder Anfänger vermutlich nicht viel anfangen. Als ich in der vierten Klasse zum ersten Mal das Wort „Plusquamperfekt“ hörte, taufte ich es um in „Kaulquappenkonfekt“. Das war anschaulicher und ließ sich besser behalten.

Und noch etwas ließ sich gut behalten, weil es wie eine Warnung vor Trickbetrügern klingt: „Das Plusquamperfekt tritt niemals allein auf.“ Es braucht nämlich immer einen Komplizen. Gemeint ist damit eine zweite Vergangenheitsform, auf die es Bezug nehmen kann, so wie in diesen Beispielen:

Was er früher getan hatte, stand jetzt nicht zur Debatte.

Was im letzten Schuljahr noch die Ausnahme gewesen war, ist in diesem Jahr die Regel geworden.

Im ersten Satz ist der Komplize des Plusquamperfekts das Präteritum, im zweiten das Perfekt, beide auch bekannt als „einfache Vergangenheit“ und „vollendete Gegenwart“.

Auf der Internetseite mein-deutschbuch.de erfährt man unter der Überschrift „Was man über das Plusquamperfekt wissen sollte“:

Das Plusquamperfekt, auch die Vorvergangenheit genannt, ist das Tempus der Vorzeitigkeit gegenüber dem Präteritum und dem Perfekt. Es gibt die Vergangenheit wieder, die vor dem Präteritum/Perfekt geschehen war und die für die Handlung im Präteritum/Perfekt wichtig ist.

Dummerweise enthält ausgerechnet diese Erklärung ein falsches Plusquamperfekt. Richtig müsste es heißen: „Es gibt die Vergangenheit wieder, die vor dem Präteritum/Perfekt geschehen ist“, denn für ein „geschehen war“ fehlt der Anlass, genauer: die Vergangenheit. Wo es keine Vergangenheitsform gibt, bedarf es auch keiner Vorvergangenheit. Auch in einer Erklärung über das Plusquamperfekt nicht.

Bindewörter wie „bevor“, „nachdem“ und „zuvor“ helfen dabei, den Wechsel von einer Vergangenheitsebene zu einer anderen kenntlich zu machen. Sie wirken wie ein Signal für den Einsatz des Plusquamperfekts:

Bevor sie Filialleiterin wurde, hatte sie als Kassiererin gearbeitet.

Nachdem er sich gründlich in Köln umgesehen hatte, kaufte er sich eine Wohnung in Düsseldorf.

Das Verhältnis von Vergangenheit und Vorvergangenheit lässt sich mit folgender Formel darstellen: Nachdem das Plusquamperfekt seine Arbeit erledigt hatte, übernahm das Präteritum.

Wenn eine Sprecherin des ARD-Nachtmagazins nach einem Gespräch mit einem zugeschalteten Minister in Richtung Kamera behauptet: „Und das Interview hatten wir vor der Sendung aufgezeichnet“, dann ist ein Plusquam zu viel Perfekt im Spiel. Es sei denn, der Satz ginge noch weiter und nähme auf ein anderes Ereignis Bezug: „Das Interview hatten wir vor der Sendung aufgezeichnet, bevor bekannt wurde, dass der Minister am selben Abend zurücktreten würde.“

Für die Beschreibung der einfachen Vergangenheit stehen das Präteritum und das Perfekt zur Verfügung: „Früher war alles anders“ oder „Früher hat es so was nicht gegeben“. Es wäre des Vergangenen zu viel, wenn man sagte: „Früher war alles besser gewesen“ und „Früher hatte es so was nicht gegeben“ – womöglich noch verstärkt durch ein zusätzliches „gehabt“: „Früher hatte es so was nicht gegeben gehabt.“

In der Umgangssprache wird das Plusquamperfekt oft überstrapaziert, dafür kommt es in der Zeitungssprache regelmäßig zu kurz. So wie das Präsens herhalten muss, wenn eigentlich eine Vergangenheitsform gefordert wäre („Mann springt von Brücke“), so bedient sich der Journalismus gern des Präteritums, wenn eigentlich das Plusquamperfekt gefragt wäre.

Ein Leser fragte mich, ob die Überschrift „Tote Touristin gönnte sich USA-Reise zum Geburtstag“ (Welt Online, 10.8.2010) nicht besser lauten sollte: „… hatte sich USA-Reise zum Geburtstag gegönnt“. In grammatischer Hinsicht lag er mit dieser Vermutung richtig. Aber selbst im Plusquamperfekt bliebe das Paradoxon, das immer dann entsteht, wenn Zeitungen über das Leben von Toten berichten.

Ein andermal wandte sich ein Krimiautor mit einer Frage an mich. Anlass war eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und seiner Lektorin. Es ging dabei um folgenden Satz: „Das letzte Mal, dass er diesen Ausdruck in seinem Gesicht sah, hatte ein Mensch dran glauben müssen.“ Die Lektorin wollte den Satz umformulieren und das Plusquamperfekt durch Präteritum ersetzen: „Das letzte Mal, dass er diesen Ausdruck in seinem Gesicht sah, musste ein Mensch dran glauben.“ Der Autor wollte nun von mir wissen, wer von beiden richtiglag. Die Antwort darauf lautete: keiner von beiden. Denn in diesen Satz gehört zwar das Plusquamperfekt, aber nicht nur einmal, sondern gleich zweimal: „Das letzte Mal, dass er diesen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen hatte, hatte ein Mensch dran glauben müssen.“ Beide Handlungen (einen Gesichtsausdruck sehen und dass jemand dran glauben muss) sind Teil einer Erinnerung. Erzählt wird in der Vergangenheit, daher ist dies eine Rückblende in die Vorvergangenheit und somit ein Fall für Kommissar Plusquamperfekt, dem es sicherlich ein Vergnügen gewesen wäre, an dieser Stelle gleich doppelt in Erscheinung treten zu dürfen.

Wie auch immer man das Plusquamperfekt bewertet, am Ende gelangt man zu der Erkenntnis: Nicht alles, was gewesen war, hätte sein haben müssen. Ich belasse es daher bei diesem Gedicht:

Ein Freund von mir reiste sehr gerne auf Spesen.
Wo immer ich hinkam, war er längst gewesen.
Was immer ich sah, hatte er schon gesehen.
Was immer geschah, das war ihm schon geschehen.
Ein Buch, grad erschienen, hatte er längst gelesen.
Ein Film, neu im Kino: Nein, der war nichts gewesen!
Als ich eine Frau fand: belesen, charmant!
Da hatte er sie tatsächlich schon vor mir gekannt.
Jetzt weiß ich, was hinter „gehabt hatte“ steckt,
Und bin auf der Hut vor dem Plusquamperfekt.

(c) Bastian Sick 2012


Diese Kolumne ist auch in Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, Folge 5“ erschienen.


Zum Thema: Das Ultra-Perfekt

Zum Thema: Die unendliche Ausdehnung der Gegenwart

Lesen Sie auch:

Das Wunder des Genderns

Kein sprachliches Thema hat die Gemüter in den letzten Jahren so sehr bewegt und erhitzt …

3 Kommentare

  1. Lieber Herr Sick!

    Wenn ich das so lese, bin ich sehr froh, dass ein derartiger Trend bei uns in Österreich bisher ausgeblieben ist. Ich wundere mich immer wieder, wenn (man möchte meinen: gebildete) Moderatoren und Nachrichtensprecher im deutschen Fernsehen das Plusquamperfekt verwenden, obwohl es offensichtlich falsch ist. Ebenso sucht man das von Ihnen erwähnte Ultra-Perfekt in der österreichischen Umgangssprache vergeblich.
    Dafür wird man bei uns kaum jemanden finden, der weiß, wie und in welchen Fällen das Plusquamperfekt korrekt verwendet wird.

  2. Vielen Dank für diesen Beitrag. Wie oft ergänze ich, wenn ich im Radio eine vorzeitige Handlung beschrieben höre, den „war…“-Satz mit „gewesen“.

    Interessant dabei finde ich besonders, dass im vorangegangenen Satz das Plusquamperfekt sogar noch verwendet wurde. Aber dann ist der Sprecher wohl der Meinung, dass die Vorzeitigkeit ein für allemal klargestellt sei und man ihrer nicht mehr bedürfe… *seufz*

  3. Mir fällt auf, dass „war gewesen“ immer häufiger gesagt wird. Sogar in der Zeitung kann man es lesen. Schade.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert